Ein Vorweihnachtserlebnis – Unser Land braucht mehr Empathie und Solidarität

Ein Vorweihnachtserlebnis  – Unser Land braucht mehr Empathie und Solidarität

Mal wieder ein Gespräch in Düsseldorf.  Ein ungemütlicher, regnerischer Dezembertag. Kurz vor Weihnachten.  Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof Recklinghausen ab. Es geht – wie immer – mit  der Bahn weiter. Die noch zum letzten Weihnachtsfest defekten Aufzüge sind inzwischen fertig. Ein Gländerkunstwerk aus Stahlrohren schmückt den Tunnel. Die Bahnhofshalle wie immer ungemütlich, wenig einladend, einfach kalt. Auch die wenigen LED-Weihnachsketten stimmen nicht auf die Vorweihnachszeit ein.   Dann hinauf zum Bahnsteig 1. Und natürlich … Verspätung. Ca. 20 Minuten, so steht es gerade auf der Anzeigetafel. Gemurmel auf dem voll besetzten Bahnhof. „Scheiße, „ sagt der junge Mann neben mir.  „Immer der gleiche Mist“. Insgesamt allerdings keine Aufregung. Aggressionen, nein. Gleichgültigkeit? Fatalismus? „Man kann ja da sowie nichts machen“, sagt der junge Mann neben mir. Nur so viel zu den Themen Infrastrukturinvestitionen, Mobilität und Politikverdrossenheit.

 

Mein Blick fällt auf die leeren Bürofenster, die ungepflegte Bahnsteigrückwand, an Weihnachten erinnert hier nichts. Um die Ecke dann die Tafel mit dem Fahrplan. Vor mir eine ältere Frau, so um die 60 – auf einer rostigen Bank sitzend, zwei Einkaufstüten, sie in Sandalen, mit  zerschlissenem Kleid. Die zerrissene Jacke, die sie trägt,  wird sie bei  Kälte wohl kaum schützen. Es sind noch drei Plätze auf der rostigen Bank frei. Trotz der vielen Menschen. Wegen der rostigen Bank oder wegen dem Mütterchen? Weiter vor, in Richtung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes, runterkommend und mit Leerständen, ein junger Mann. Er wippt in seinem alten Mantel aufgeregt auf seinen Füßen hin und her – trägt lautstark Bibeltexte vor. Die Menschen um ihn herum blicken skeptisch, ängstlich, abweisend. Der sonst gut gefüllte Bahnsteig bildet um den Mann herum einen immer größeren,  sich von Menschen leerenden Kreis.

An mir geht ein Mit-Fünfziger vorbei. Kantiger, grauer Schädel. Dürr. Er schlufft mit seinen großen Schuhen über Bahnsteig 1. In beiden Händen eine große Plastiktüte. Er macht neben der rostigen  Bank am Abfalleimer Halt. Er durchsucht die drei  Sortierfächer mit einer kleinen Taschenlampe. Greift hinein, sichert Flaschen und Dinge, die ich nicht erkennen kann. Der Mann schlufft weiter zum nächsten Abfalleimer.  Ich erinnere mich an Mai 1986. Ich hatte dienstlich in London zu tun. Da sah ich sie zum ersten Mal, diese Resteverwerter unseres Wohlstandsmülls. Ich dachte: Unmöglich, dass es das in London gibt. Gott sei Dank nicht bei  uns in Deutschland. Nun gehört diese Beobachtung zur Selbstverständlichkeit unseres Alltags.  Einem Alltag mit vielen Abgehängten und noch mehr Menschen, die Angst davor haben in Zukunft abgehängt zu werden.

Die zwanzig Minuten sind um. Der Zug kommt. Einstieg. Ein gut 80jähriger hinter mir. Komme ich hiermit nach Essen? Fragend, ängstlicher Gesichtsausdruck. „Ja, kommen Sie“, sag ich, „sie sind hier richtig.“ Er betritt vorsichtig, suchend das Abteil. Er ist unsicher, ob er sich setzen soll. Der ruckelnd abfahrende Zug nimmt ihm die Entscheidung ab. Er hält sich an der Sitzreihe fest und plumpst  auf die Sitzbank.

Ich habe einen Platz am Ende des Wagens. Packe meinen Computer aus. Schalte an, gehe ins Netz. Lese die aktuellen und weniger aktuellen Meldungen der deutschen Presse.  So die Intervieäußerungen des neuen SPD-Vorsitzenden-Duos. Kein Groko-Aus um jeden Preis. Aber Gesprächsbedarf und Zwischenbilanz:  Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene und die Einführung eines Systems europäischer Mindestlöhne,  Verbot willkürlicher Befristung, Rechtsanspruch auf Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, Stabilisierung des Rentenniveaus, Einführung einer Bürgerversicherung im Gesundheitswesen,  mehr Investitionen in Bildung, schnelles Internet, bessere Straßen und sozialer Wohnraum, Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut, modernes Einwanderungsrecht, mehr Polizei. Einiges erreicht, also wird es weitergehen.

Ja,  das stimmt alles. Und doch bleibt mir ein Unbehagen. Ich denke an die Menschen, die mir bislang begegnet sind.  Ich sehe sie wieder, die leeren,  traurigen,  ängstlichen Gesichter.  Ja das ist alles richtig. Aber kommen diese Botschaften überhaupt bei den Menschen an? Können sie in der Unsicherheit Halt und Hoffnung geben?  Schaffen die Botschaften die Zuversicht,  nicht mehr abgehängt zu sein sein oder abgehängt zu werden? Ich glaube nicht. Diese Botschaften sind Botschaften über Menschen und nicht für Menschen.

Ich bin in Düsseldorf. Stehe in der Schlange beim Ausstieg. Beim  Herausgehen ein Pulk von Menschen und im Gegenverkehr –  wie ein Geisterfahrerin – eine alte Dame, die nach Münster will. Fragend, bittend. Die Vorbeigehenden:  kopfschüttelnd, verächtlich lachend, schimpfend.  Ich steige fast als letzter aus. Sage der Dame, dass dieser Zug wieder zurückfährt Richtung Münster. Allerdings nur bis Bösensell. Sie solle unterwegs den Schaffner fragen.

Ich bin wieder in dem Pulk an der Treppe. Es geht nicht weiter. Rechts an der Treppe steht ein älterer Herr – wohl so um die 80 –  der sich gerade auf dem Bahnsteig bei der Kälte das Hemd auszieht und nun im Unterhemd vor den Menschen steht. Er fuchtelt mit dem Hemd durch die Luft. Bückt sich. Greift dann in seine Einkaufstasche. Es ist eng auf dieser Treppe. Man merkt,  dieser Anblick ist für die Vorbeigehenden unangenehm. Die Menschen scheinen froh, wenn sie die enge Passage hinter sich gelassen haben. Ich sehe, wie der Mann sich einen Pullover aus der Tasche holt und diesen anzieht. Wer ist das? Woher kommt er wohl? Hat er  Angehörige? Ist er krank? Die Gedanken schießen durch meinen Kopf, die Treppe hinunter, auf dem Weg zu meinem Termin. Kann man nicht Angst bekommen in einer rastlosen, immer komplexer erscheinenden Welt,  in der die Würde des Alters immer weniger emotionalen und auch materiellen Wert hat?

In der Bahnhofs–Mal herrscht reger Betrieb. Mich spricht jemand auf einen Euro als Zuschuss für ein Ticket an. Die Menge zieht mich weiter. Im Bahnhofseingang eine südländisch aussehende Frau, mit Kleinkind, sitzend. Bettelnd. Ebenso auf der anderen Straßenseite am Eingang zu den Straßenbahnhaltestellten. In 8 Minuten kommt die St306 in Richtung Poststraße. Ich schaue mich um und erkenne – auch bei ganz anderen Menschen – die vielen traurigen und leeren Blicke vom Bahnsteig in Recklinghausen wieder.  Aber vielleicht liegt das ja nur an diesem verdammt ungemütlichen Winterwetter. Und wieder jemand, der in einem Abfallbehälter wühlt. Etwas Essbares findet und  dieses hastig herunterschlingt. Am gegenüberliegenden Haltesteig hangelt sich ein dürrer Mann – aggressiv und lautstarkt gestikulierend-  von Haltestange zu Haltestange. Ein anderer kommt auf ihn zu. Redet auf ihn ein. Scheint ihn zu stützen.  Er gibt ihm einen kleinen Umschlag. Drogen? Was auch immer.  Ich weiß es nicht. Ein trauriges Bild. Ist es nicht verständlich, dass Menschen beim Erleben derartige Bilder  und sich häufender Meldungen über Einbrüche, Vergewaltigungen, Messerstechereien Angst verspüren? Angst vor Weiterungen, Angst vor Zunahme von Gewalt?

Die Straßenbahn kommt. Ich verliere die beiden Männer aus den Augen. In der Bahn lese ich die neueste Meldung  aus dem Zentrum der Empathie. Berliner – Zeitung: Lindner schließt Regierungsbeteiligung nicht aus.

Geht es noch? Da liefen vor zwei Jahren bei den Koalitionsverhandlungen doch nur  strategische Spielchen. Da ging es um Ober- und Hyperthemen. Rote Linien. Da ging es um Visionen und Leitbilder.  Da  lagen Wahlprogramme, Konzepte, rote, grüne und sonstige Leitlinien auf dem Tisch und waren Gegenstand der täglichen Presseverlautbarungen. Und unter dem Tisch fanden eiskalte Machtspiele statt – Machtspiele um die eigenen Interessen. Und sage mir noch einer, die AfD wäre dazu eine Alternative. Im Gegenteil. Sie bereichert das Berliner  Machtspiel um eine besonders perfide Facette: Sie setzt Hass als Mittel des Machterwerbs ein.

Wenn man unterwegs ist und die Augen und das Herz offen hat, dann merkt man was Not tut. Diese Gesellschaft muss wieder Empathie lernen. Die politischen Akteure an erster Stelle.  Politik muss die Sorgen und Ängste der Menschen aufgreifen und auch spürbar angehen.  Wenn es mir nach ginge, dann dürfte nur jemand ein öffentliches Amt bekleiden, der mindestens einmal in der Woche den öffentlichen Nahverkehr und Fernverkehr  nutzt. Aber nicht die 1. Klasse. Was sagt doch ein Freund zu meinen Beobachtungen:  „Der ÖPNV ist immer der Spiegel der Gesellschaft. Es wird Zeit, das sich der König wieder unter das Volk mischt.“

Darf sich eigentlich eine so reiche Gesellschaft,  wie die unsere, derartige Ängste und Sorgen leisten. Sorgen,  die man so oder ähnlich an jedem Tag, in jeder Stadt erleben kann?  Nein sie darf nicht. Politik muss dazu Antworten haben, Leitbilder und spürbare Maßnahmen. Menschen müssen Zuneigung und einen Wettkampf der Politiker um ihr Wohlergehen spüren.

Politik die ich meine, muss sich zunächst um die Abgehängten und Verlassenen der Gesellschaft kümmern und um die, die Angst haben als  nächste „dran“ zu sein. Politik die ich meine,  ist bewusste Parteinahme und aktivierende Gesellschaftspolitik.

Und….eine solche Politik braucht zunächst Empathie. Die entwickelt man nur, wenn man nahe bei den Menschen ist.  Dabei reicht es nicht, wenn man mit der Bahn fährt: Von der DB-Lounge über die 1. Klasse in den Dienstwagen. Das sage ich durchaus selbstreflektierend und selbstkritisch.

5 Kommentare zu „Ein Vorweihnachtserlebnis – Unser Land braucht mehr Empathie und Solidarität

  1. Das ist eine sehr gute Darstellung der Realität. Ich empfehle jedem, der hinter die Fassade schauen möchte eine Fahrt mit der Strassenbahn Linie 302 von Bochum nach Gelsenkirchen Buer. Armut, alt und Krankheiten, Migration….nur leider sehr wenige die gut situiert sind, in diesem Land entscheiden,…. Der ÖPNV ist immer der Spiegel der Gesellschaft.. Es wird Zeit, das sich der König wieder unter das Volk mischt,..

    • Hallo Georg. Ich glaube, dass Franz-Josef schon eine wichtige Schlussfolgerung genannt hat: “ Der ÖPNV ist immer der Spiegel der Gesellschaft.. Es wird Zeit, das sich der König wieder unter das Volk mischt,..“ Gemeint hat er wohl die Politiker. Man hat mehr und mehr den Eindruck, dass sie sich mit ihrer Nischenpolitik ganz wohl fühlen.

  2. Lieber Jochen, du hast recht das was du erlebt hast und Dankenswerter auch aufgeschrieben hast, zeigt uns auf, das der Individalismus der dieser Gesellschaft das Gesicht gibt, hemmungslos ist
    Die politische Klasse ist selbstverliebt und bietet Lösungen an , die diese Menschen nicht mehr erreicht
    Wann wird die Kommunalpolitik endlich verstanden als wichtigstes Handlungsfeld der Politik?
    Einmalige Entschuldung ist da nicht die ausreichende und auch nicht die richtige Antwort.
    Die Menschen merken das es nicht die ehrliche Antwort ist auf unsere Probleme
    Da muss was grundsätzliches zur Gemeindefinanzierug kommen