Über den Weg der „Ent-Täuschung“ in der Flüchtlingsarbeit.

Die Lage im Flüchtlingscamp von Idomeni in Griechenland ist unmenschlich. Die Bilder derjenigen die – trotz Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei-  den Weg nach Griechenland wagen wühlen auf. Sie machen sprachlos. Sie lassen verzweifeln.

Die Türkei ist der Hot-Spot und das Abschiebelager der Europäischen Union geworden. In der Türkei kann die lästige Arbeit getan werden, für die wir uns im Werte-Europa zu schade sind. Wir halten scheinheilig die Willkommenskultur hoch und lassen die Türkei die schmutzigere Arbeit machen. Wohl wissend, dass die humanitären Maßstäbe in der Türkei andere sind.

Aber das ist gewollt. Es gilt abzuschrecken. Abschrecken sollen auch die Blockaden entlang der Balkanroute und die erbärmlichen Zustände in den Lagern entlang der griechischen Grenze. Unser Gutmenschen-outfit wird auch weiterhin durch die Willkommensrufe an den deutschen Bahnhöfen, das Kanzlerinnen-Selfie mit einem Flüchtling und das Merkelsche Mantra „Wir schaffen das“ geprägt.

Und dieses Image hält sich beständig. Es ist durch noch so viele Beschlüsse der EU und unsere sarkastische Feigheit und Scheinheiligkeit nicht klein zu kriegen. Bilder und Interviews aus den Lagern und am Strand von Lesbos machen sprachlos. „Wir warten hier an der Grenze, sie werden sie aufmachen. Wir wollen nach Deutschland,“ sagt die syrische Mutter mit ihren Kindern, die jetzt seit Wochen in Idomeni ausharrt. „Entweder sie lassen uns durch- nach Deutschland –  oder das ist unser Tod“, resümiert ein junger Iraker.

Wie kann es sein, dass sich Tage nach dem Brüsseler Pakt noch hunderte Menschen auf den Weg durch die Ägäis machen? Wie funktioniert so etwas? Hoffnung und medial aufgerüstete Glaubenssätze wie „Wir schaffen das“ sind nur mühsam abzutragen. Es dauert seine Zeit und es bedarf tiefer Verunsicherungen. Und wenn diese dann in Ausweg- und Hoffnungslosigkeit enden, richten sich Wut und Hass oft gegen die früheren Hoffnungsgeber.

Nicht Assad, nicht der Islamische Staat sind dann für diese ausweglose Situation verantwortlich. Vielmehr diejenigen, die eine, wodurch auch immer genährte Hoffnung, nicht erfüllen. Nicht mehr die Fluchtursachen nähren Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Hass. Vielmehr die nun offensichtliche Unfähigkeit oder gar Unwilligkeit der Helfer.

Das gilt nicht nur für den syrischen Familienvater in Deutschland, der verzweifelt auf seine Familie wartet, die in Idomeni dahin vegetiert. Das gilt für die Vielen auf dem Weg in das „Gelobte Land“. Sie alle habe Ihre Vorstellungen, ihre Bilder im Kopf, Bilder von Chancen und Möglichkeiten in Deutschland. Etwas hat diese Vorstellungen und Bilder genährt. Wir erinnern uns an die Willkommensplakate, die Selfies der Flüchtlinge aus Deutschland (mit und ohne Kanzlerin), die Fernsehberichte über die Willkommenskultur in Deutschland. Natürlich ist jeder für seine Phantasien selbst verantwortlich. Aber wir sind es, die diesen Phantasien Nahrung geben. In dieser digitalen Welt in einer rasanten Geschwindigkeit, bis in die letzten Winkel der Erde.

Es geht jetzt nicht um die Schuldfrage. Aber:  Mit diesen Mechanismen werden hilflose Menschen ge – täuscht. Den Preis zahlen nicht die Täuscher sondern die Getäuschten. Es ist sicher so, dass unser vermitteltes „Willkommens-Klima“ diese Bilder genährt und eine schon vorhandene Täuschung komplettiert hat. Von Verantwortlichkeiten unserer Spitzenpolitiker mal ganz abgesehen. Entscheidender ist allerdings, dass wir es in Kenntnis einer solchen Entwicklung versäumt haben, die einfach unrealistischen Vorstellung und Bilder zeitgerecht zu ent-täuschen.  Ent-täuschen, um einen realistischen Blick auf die Lage und die Möglichkeiten zu lenken. Zu Beginn des Hypes wäre dieses durch klärende Worte und realistische Bilder, vermittelt durch akzeptierte Autoritäten, geschehen können und müssen. In der gleichen rasanten Geschwindigkeit bis in die letzten Winkel dieser Welt. Das hätte allerdings sehr frühzeitig das „Mutter-Theresa-Image“ mancher Politiker relativiert.

Dieser dann mögliche realistische Blick macht erst eine Entscheidung für oder gegen einen lebensgefährlichen Fluchtweg möglich. Nicht das späte Wortgeklingel aus Brüssel. Das was sich jetzt mit den geschlossenen Balkangrenzen und dem Türkei-Deal entwickeln wird ist entwas anderes als Enttäuschung. Es ist emotionale Verletzung. Eine Verletzung die in Resignation, vielfach aber auch in Wut und Hass mündet. Die Weiterung derartiger Entwicklungen in Gewalt und Terror soll an dieser Stelle noch gar nicht beschrieben werden.

Dabei ist der in dieser Flüchtlingsfrage erkennbare Mechanismus von Täuschung und Ent-täuschung ein gängiger Handlungsweg unserer Politik. Der inzwischen vielfach beobachtete Hass auf das politische Handlungs- und Rahmenestablishment rührt doch exakt daher. Es sind in den Köpfen vieler Bürger Wunsch-Bilder oder auch Anspruchbilder über den Staat, die Gesellschaft, den Wohlstand, die Gerechtigkeit und das soziale Miteinander entstanden. Es ist sicher so, dass es lohnend wäre diese Bilder anzustreben. Aber deren Transformation als Anspruch in die persönliche Realität gerät zur Täuschung. Eine Täuschung die letztendlich ent-täuscht werden muss.

Auch hier nähren Politik und Medien diese Täuschung durch Versprechungen, Unfehlbarkeitsgehabe und Allmachtsfantasien. Da Politik, Verwaltung und Berichterstattung von Menschen gemacht werden ist die Erfüllung so entwickelter Wunsch-Täuschungen einfach unmöglich. Es muss zu schmerzhafter Enttäuschung und schließlich zu dem Gefühl  enttäuschter Liebe kommen. Die Wirkungen dieser enttäuschten Liebe in unserem parlamentarischen System erleben wir seit Jahrzehnten schleichend durch die steigende Zahl der Nichtwähler und durch die erkennbaren „Denkzettelwahlen“. Dabei sollte jedem bewusst sein, dass die sich so entwickelnden Gefühle von Wut und Hass leicht ausgenutzt und machtpolitisch instrumentalisiert werden können. Das gilt für die Bürger unser demokratischen System ebenso wie für die geschundenen Flüchtlinge.

Was tun? Vorbeugung ist hier der Königsweg. Handeln vor der Entwicklung von Täuschungen in den Köpfen. Konkret heißt das, dass die Entwicklung von Täuschungen durch Politik und Medien nicht befeuert werden darf.  Das ist nicht einfach bei unserem Parteienwettbewerb und in dem marktschreierisch orientierten Politik- und Medienbetrieb. Hier sind Superlativen gefragt. Gleichwohl, wer  Enttäuschungen  mit der sich anschließenden, nachhaltigen Entwicklung von Hass oder Resignation verhindern will, der muss realistische und auch unbequeme Botschaften kommunizieren.
Was ist jetzt zu tun, da das Kind in den Brunnen gefallen ist? Zunächst muss den Menschen, die mit einem Schutzanspruch auf dem Weg sind,  die Aussichtslosigkeit genommen werden. Denjenigen die sich neu auf den Weg machen wollen, muss die Begrenzung unserer Möglichkeiten, auch der Aufnahmefähigkeit, deutlich gemacht werden. Schließlich ist auch denjenigen die zu uns kommen frühzeitig ein realistisches Bild der Integrations- und Zukunftschancen zu vermitteln. Es muss dann letztlich alles getan werden, damit diese möglichen Zukunftschancen auch eingelöst werden.
Wer kann diesen Weg des frühzeitigen „ent-täuschens“ wirkungsvoll mit den Flüchtlingen gehen? Natürlich sind das zunächst auch diejenigen, die in der Vergangenheit – bewusst oder unbewusst – unrealistische Hoffnungen geweckt haben. Keine attraktive Forderung an die Spitzen unserer Gesellschaft. Schließlich sind Personen aus dem Vertrauenskreis der eigenen Herkunftsgruppe, die bereits Vorerfahrungen haben, dazu geeignet und berufen.  Peer-to-Peer – Aktivitäten, richtig auf den Weg gebracht, sind  bei der Entwicklung realistischer Zukunftsperspektiven sehr wirkungsvoll.