Wenn ein emeritierter Papst zum virtuellen Opfer wird

Wenn ein emeritierter Papst zum                         virtuellen Opfer wird
Papst Benedict in besseren Zeiten

 

 

 

Papst Bendikt XVI (emeritiert) wird durch ein aktuelles Missbrauchsgutachten schwer belastet. Er selbst hat Kenntnis der Vorgänge abgestritten. Wie kann das sein? Das geht nur, wenn man sich selbst als Opfer sieht. Der nachfolgende Artikel hilft den Hintergrund dieser Haltung zu erhellen:

Der emeritierte Papst Benedikt XVI machte vor Jahren fast eine ganze Nation
über die Grenzen der Religionsgemeinschaften hinweg stolz. „Wir sind
Papst!“ war eine Schlagzeile der Bild-Zeitung am 20. April 2005, einen Tag
nach der Wahl Joseph Kardinal Ratzingers zum Papst.
Die gleichwohl verhaltene Euphorie jener Tage ist mit der Dauer seines
Episkopats vielfach in Kritik und Unverständnis umgeschlagen. Der unverstellte
Konservatismus von Benedikt dem XVI bei Fragen des Zölibats, der
Stellung der Laien, zur Sexualität und zur Bedeutung der Frauen in der Kirche,
lösten diesen Stimmungswandel aus.

Sein Rücktritt als Papst 2013 war zwar spektakulär, für viele engagierte
kritische Katholiken aber auch überfällig. So schrieb der Freiburger Moraltheologe
Magnus Striet, dass das gesamte Werk von Benedikt XVI durchzogen
sei „von einem Furor gegen Neuzeit und Moderne“ (Magnus Striet
in Publik-Forum vom 12.04.2019). Seit seinem Rücktritt lebte er zurückgezogen
hinter den Vatikan-Mauern. Damals hatte er versprochen, „für die
Welt verborgen“ zu bleiben.
Thomas Seiterich sieht den emeritierten Papst in seinem Artikel „Benedikt
XVI: Die ‘68er sind schuld.“ (Publik-Forum – 12.04.2019) eher als
„Gegenpapst zu Franziskus. Während der die katholische Kirche auf einen
Kurs gegen die in der zölibatären Spielart des Klerikalismus latent angelegte
sexuelle Gewalt zu steuern sucht, zündete der Altpapst im Bayerischen
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Klerusblatt einen Kracher. Der fast 92-jährige Dogmatiker gibt vor, er wisse
genau wer schuld sei an den Missbrauchsverbrechen: Die ‘68er sowie die
liberalen Theologen und Pädagogen in der Kirche.“
In seinem o.g. Aufsatz schreibt Ratzinger, dass es zur „Physiognomie der
68er Revolution“ gehört habe, dass auch Pädophilie erlaubt sei. Gerade in
dieser Zeit habe sich auch ein „Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“
ereignet. Dieser Zusammenbruch habe dann auch Teile der Kirche
„wehrlos gegenüber den Vorgängen der Gesellschaft“ gemacht.(Ratzinger
in „Bayrisches Klerusblatt 2019)
Man muss dem Theologen und Psychotherapeuten Wunibald Müller zustimmen,
wenn er kritisiert, dass Benedikt in keiner Weise auf die Schuld
eingeht, die im Umgang mit sexuellem Missbrauch auch Bischöfe treffe.
Dazu zählt Müller auch ihn selbst, den damaligen Münchener Erzbischof
Joseph Ratzinger. Sie seien „nicht angemessen“ mit den Tätern umgegangen.
Die betroffenen Opfer, ihr Leid seien nicht gehört worden. „Es fehlte
die Sensibilität, die Empathie, das Mitleiden dafür.“ (Wunibald Müller
in Publik-Forum 12.04.19) Müller blickt darauf, dass auch vorgesetzte Bischöfe
ihre Verantwortung hatten und diese im Blick auf die Verfolgung
der Täter und die Empathie für die Opfer nicht wahrgenommen haben. Diese
Einschätzung scheint sich ja mit der aktuelleren Causa Woelki nur zu
bestätigen.
Wir kommen zurück zu der näheren Betrachtung der verschiedenen Opfertypen
und zu den Erscheinungsformen des virtuellen Opfers. Die vielen
Jungen und Mädchen, die auch schon lange vor der 68er-Bewegung körperliche
und seelische Opfer perverser Kleriker waren, haben unser Mitgefühl
und unsere Solidarität verdient. Insbesondere eine stärkere Solidarität durch
die Amtskirche. Nicht wenige leiden noch heute unter den damaligen Ereignissen,
unter Grenzüberschreitungen und unter einem absolutistischem
Amtsverständnis, dass derartige Perversitäten erst ermöglicht oder zumindest
begünstigt hat.
Benedikt hält sich bei der Verfassung seines Artikels in der Komfortzone
auf, die eine Quasi-Unfehlbarkeit des kirchlichen Geistes sieht. Er erklärt
diese im Blick auf die Missbrauchsfälle so: „Im letzten liegt der Grund in
der Abwesenheit Gottes“. Und nun kommt es zur Opferumkehr. Nicht mehr
die missbrauchten Opfer stehen im Mittelpunkt. Es kam für ihn zum Zu-
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sammenbruch der katholischen Moraltheologie, „der auch Teile der Kirche
„wehrlos gegenüber den Vorgängen der Gesellschaft“ gemacht habe. Die
Kirche, der Klerus und damit auch er werden zu einem Opfer. Für uns erkennbar
zu einem virtuellen Opfer.
Der mimetische Zyklus in Benedikts Ausführungen, der die geistige
Reinheit – nach welchem nachgeahmten Vorbild auch immer – anstrebt,
aber nicht erreicht, sucht einen Sündenbock. Er wurde in der ‘68er Bewegung
gefunden. Der Vorteil gegenüber anderen Sündenbock-Phänomenen
ist der, dass die Auswirkungen dieser Anklage auf die 68er wohl marginal
sind. Den Protagonisten und Sympathisanten der damaligen Bewegung
dürfte die Sündenbockzuweisung durch Benedikt ziemlich egal sind. Vielmehr
dürfte es Wasser auf die Mühlen derjenigen sein, die dem klerikalen
Absolutismus ohnehin kritisch gegenüber stehen.
So lässt sich an diesem Beispiel leicht erkennen: Virtuelle Opfermentalität
und Sündenbocksuche machen auch vor hochintellektuellen und hochgeistigen
Persönlichkeiten keinen Halt. Allerdings wird an diesem Beispiel
auch deutlich, dass virtuelle Opfermentalität nicht immer erfolgreich sein
muss und nicht per se zu gesellschaftlichem Wohlwollen führt. Entscheidend
ist, dass auf der emotionalen Ebene der Gesellschaft die Opfereigenschaft
nachgefühlt wird. Dieses war bei der Zuschreibung durch Benedikt
zweifelsfrei nicht der Fall. Somit konnte keine Opfersolidarität entstehen.
Im Gegenteil: die indirekte Inanspruchnahme einer Opfereigenschaft durch
die katholische Kirche und Benedikt wirkte durch diese Aktion eher peinlich.
Thomas Seiterich drückt es in dem zitierten Artikel im Publik-Forum viel
drastischer aus: „ Viele Theologen und engagierte Christen verschiedener
Konfessionen …fragen sich: Hat dieser Mann, der kleinlich alte Feindschaften,
Hassbilder und Ressentiments pflegt, noch alle Tassen im Schrank?“

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