Sylvester 2022: Sie wollen nicht Opfer sein – deshalb werden sie zu Tätern.
Randale und Übergriffe an Sylvester – da war doch was? Ja genau, es war Sylvester 2015. Köln stand in der Nacht zum 1. Januar 2016 mit Randale und sexuellen Übergriffen, Körperverletzungen und Eigentumsdelikten im Mittelpunkt der politischen Diskussion.
Nach Corona-Lockdown , Kriegswirren und neuem Flüchtlingszuzug entlädt sich nun, an Sylvester 2022, in zahlreichen Städten , insbesondere Berlin aber auch an vielen anderen Orten der Republik, eine nicht zu tolerierende Aggression gegen Beschäftigte von Polizei, Feuerwehr und Rettungswesen. Diese stehen wohl in den Augen der Täter stellvertretend für einen Staat, der von den Randalierern inzwischen abgrundtief gehasst wird.
Es täte unserer Demokratie nur gut, wenn jetzt in aller Dringlichkeit eine sozialpsychologische und politische Inventur der bisherigen Ereignisse erfolgen würde. Wer waren der Täter, die Krankenwagen mit Feuerlöschern, Steinen und Feuerwerkskörpern angriffen? Wer waren die Täter, die Polizisten beschimpften und ebenfalls attackierten? Wer waren die Leute, die Feuerwehrleute in eine Falle lockten und ausraubten? Wer waren diejenigen, die den Straßenraum und private wie öffentliche Gebäude als Feuerplätze nutzten und öffentliches wie privates Eigentum zerstörten? Jetzt bitte keinen Verweis auf den sicherlich wichtigen und richtigen Rechtsweg und die Arbeit unserer Justiz. Das wird dauern. Hier geht es um etwas, was keinen Zeitaufschub mehr duldet. Es geht um die Klärung der dringenden Frage nach den Ursachen, den Entwicklungen und Handlungsmöglichkeiten dieses sich inflationär entwickelnden Staatshasses. Dabei wird es bei der Analyse dieser Entwicklung einen erheblichen Unterschied ausmachen, ob die Hauptakteure dieser Randale Migranten und Flüchtlinge, übersatte und bislang wohlstandsverwöhnte Bundesbürger oder sozial Benachteiligte, mit Angst vor einem weiteren Abstieg, sind.
Die vorhandenen Videomaterialien aus unterschiedlichsten Quellen gehören jetzt ausgewertet, ebenso wie die Einsatzberichte der Polizei. Ein Expertengremium sollte im Angesicht dieser Entwicklungen seine Einschätzungen vortragen und Maßnahmen vorschlagen. Bei dieser Analyse verbieten sich Scheuklappen, Sprachverbote und Verschleierung von Zielgruppen ebenso wie vorschnelle Schuldzuweisungen.
Natürlich sind, heute wie 2015, gleich wieder die politischen Sprücheklopfer mit ihren Schuldzuweisungen, Strafverschärfungen aber auch Vereinfachungen zu vernehmen. Da gibt es diejenigen, die ohne gesicherte Erkenntnisse alle Schuld bei Migranten und Flüchtlingen finden und, je nach rechtspopulistischem Anstrich, das Heil in einem Einreisestopp für Flüchtlinge und einer offensiven Abschiebung sehen. Es gibt die anderen, die beim Blick auf die Bilder aus Presse, Fernsehen und sozialen Medien noch immer nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass es einen direkten und indirekten Zusammenhang zwischen der aggressiven Staatsverdrossenheit und einem faktischen und gefühlten Integrationsversagen gibt.
Allerdings ist schon bei oberflächlicher Analyse erkennbar, dass sich in Deutschland – nicht erst seit Sylvester 2022 – vermehrt Menschen auf den Weg machen, die diesen Staat und unsere Demokratie abgrundtief hassen und dabei auch zunehmend – vom Wort zur Tat- auch Sachbeschädigung, Körperverletzung und den möglichen Tod von Angegriffenen in Kauf nehmen. Diese größer werdenden Gruppen, ob Rechtsradikale, Reichsbürger, linksfaschistische Chaoten, radikalisierte Migranten und Flüchtlinge, alle haben die unterschiedlichsten Motive für ihr Handeln. Sie haben allerdings ein gemeinsames Motiv, den Hass auf den Staat und als Ziel die Zerstörung unserer Demokratie.
Dieser zunehmende Hass erinnert fatal an die Entwicklung der Weimarer Republik. Auch damals stieg die Zahl der Demokratiegegner ständig an. Als Menetekel mag das Jahr 1923 erscheinen. Der gescheiterte Hitlerputsch in München wurde nicht nur von den meisten damaligen Medien verharmlost und ins Lächerliche gezogen. Auch 2023 werden die sog. Reichsbürger von nicht wenigen als exotisch belächelt und damit verharmlost. Dabei wird vergessen, dass 9,5 Jahre nach dem Münchener Putschversuch Adolf Hitler an der Macht war. Hitler und seine Unterstützer verstanden und präsentierten sich damals als Opfer z.B. des Versailler Vertrages. (s.a. Jochen Welt, Opferzeiten – Vom archaischen zum virtuellen Opfer, Berlin 2021)
Es ist somit hohe Zeit für staatliches Handeln. Dazu gehört sowohl das schnelle und konsequente Handeln eines wahrhaft wehrhaften Rechtsstaates. Dazu gehören die Beendigung einer liberalistischen Großzügigkeit gegenüber Gesetzesverstößen, gleich welcher Provenienz, und die Verabschiedung von einer sozialpädagogisch überhöhten Opferzuschreibung, die, auch bei eindeutig erkennbarer Täteridentität, von Verständnis und unkonditionierter Hilfe gespeist wird.
Wer hier Veränderungen erzielen will, der benötigt einen ungeschönten Blick auf die vorhandenen Narrative der demokratiegefährdenden Gruppen. Diese Narrative, ob fehlgeleitete Vorstellungen vom Freiheits- und Wunderland Deutschland bei Flüchtlingen und Migranten, ob die blühenden Landschaften bei so manchem Einheitsverlierern in Ostdeutschland, oder ob das falsch verstandene Anything-goes eines wohlstandsverwöhnten Bundesbürgers. Alle eint, dass die Wunschvorstellungen ihrer Narrative nicht erfüllt werden. Alle eint, dass sie das System der Demokratie und ihre Repräsentanten dafür verantwortlich machen. Sie fühlen sich als Opfer dieser Entwicklung und der entsprechenden Institutionen, seien es Regierung, Parlament oder gar die Medien. Ihr gefühltes Opferschicksal vermittelt ihnen das vermeintliche Recht sich zu wehren. Dabei sind sie bereit die demokratisch gesetzte Legalität auch mit Gewalt zu überschreiten. Sie wollen nicht Opfer sein – deshalb werden sie zu Tätern.
Ein Erkennen dieser Zusammenhänge, verbunden mit einer ehrlichen Analyse der inzwischen ausufernden Exzesse, kann Wege zum Schutz und zur Weiterentwicklung unserer Demokratie aufzeigen. Wenn ich in diesem Prozess z.B. ein besonderes Gefahrenpotential im migrantischen Milieu erkenne, dann hilft kein Geschrei „die Grenzen dicht machen“ oder „Ausländer raus“. Menschen in Not, ob durch Krieg, Hunger, Katastrophen, Verfolgung oder sonstige Beschwernis, werden sich trotzdem auf den Weg machen. Aber es gibt andere Mittel, wie z.B. eine frühzeitige Ent-Täuschung als rechtzeitige Desillusionierung, damit derart irrlichternde Narrative, wie oben beschrieben, erst gar nicht aufkommen. Desillusionierung über die Grenzen unseres Wohlfahrtsstaates bereits in den Herkunftsländern. Dafür ist eine sich hier verantwortlich fühlende Außenpolitik notwendig. Es geht weiter bei den Aufnahmeverfahren, Integrationskursen und Eingliederungsmaßnahmen. Zudeckende und verständnisüberhöhte Hilfe greift hier zu kurz.
Fördern und Fordern liest sich zwar altmodisch. Aber ohne diese beiden Säulen des persönlichen und gesellschaftlichen Wachsens wird Integration nicht klappen. Gesellschafts- und Gemeinschaftskunde (ein altes, aber gutes Begriffspaar) darf nicht weiter ein Schmalspurprogramm ohne demokratische Wertevermittlung in der Integrationsarbeit sein. Berufliche Bildung für alle Zuwanderer und noch nicht Berufstätigen unter ihnen gehören in konsequente Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Eingliederung. Deutschkenntnisse sind eine unabdingbarer Schlüssel für eine gelungene Integration. Eine derartige Integrationspolitik verlangt ein empathisches, aber auch an Verantwortung und Konsequenz orientiertes Handeln aller Integrationsinstanzen. So verstanden ist eine derartige Integrationspolitik ein kreativer Geburtshelfer für ein neues Narrativ mit einer realistischen Einschätzung unserer demokratischen und sozialen Gesellschaftsordnung. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erlaubt eine rationale und emotionale Bindung an die Bundesrepublik als Einwanderungsland.
Was hier am Beispiel der migrantischen Zielgruppe aufgezeigt wurde lässt sich modifiziert auch auf viele der übrigen o.g. Akteure mit irrlichternden Narrativen übertragen. Es gilt diese Narrative zu entschlüsseln und passgenaue Handlungsempfehlungen zu geben. Und natürlich gibt es, wie immer in unserer Gesellschaft, einen Teil, den wir mit einer derartigen Analyse und Vorgehensweise nicht erreichen. Diesen Teil werden wir wohl aushalten müssen. Das tun wir ja eigentlich schon immer. Nicht speziell bei denen am unteren Rand des sozialen Spielfeldes, sondern insbesondere bei einzelnen gehobenen sozialen Gruppen auf den Logenplätzen unserer gesellschaftlichen Arena , die sich den Staat gerne zur Beute machen. Da, wo von all diesen Personen eine Demokratiegefährdung ausgeht, ist der Staat als legitimierte Ordnungsmacht gefordert.