Wir brauchen Talent-Checks statt Abwehr-Asylverfahren

Durch die fehlende Berücksichtigung von Fähigkeiten und Talenten der Betroffenen schaffe sich Deutschland soziale Problem und schiebe Flüchtlinge ins Abseits und in die Sozialkassen ab, kritisiert der Geschäftsführer der Otto Benecke Stiftung, Jochen Welt, im MiGAZIN. Nötig seien ein Talent-Check im Aufnahmeverfahren.

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Das gegenwärtige Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge dauert nicht nur zu lange. Es reduziert sich allein auf statusrechtliche Fragen. Das Verfahren vernachlässigt und verschüttet die Potenziale der zu uns kommenden Menschen. Voraussetzungen für eine leichtere Integration durch Feststellung und Förderung von Talenten der Asylsuchenden im laufenden Verfahren wurden bislang nicht geschaffen. Nach wie vor lungern Tausende – insbesondere junge Menschen – in Aufnahmelagern und Flüchtlingsheimen Monate und Jahre herum, ohne dass sie einer Ausbildung oder gar einer Beschäftigung nachgehen können. So findet nach Beeinträchtigungen durch Fluchtursachen und Fluchtwege die nächste Traumatisierung durch die Aussichtslosigkeit des bisherigen Verfahrens statt.

Offensichtlich haben Politik und Verwaltung aus den Erfahrungen der Vergangenheit nichts gelernt.

Schon bei den großen Flüchtlingswellen von 1990 bis 1993 waren derartige Probleme erkennbar. Noch heute finden sich viele gut vor- und ausgebildete Altflüchtlinge in Hilfs- oder Anlernberufen. Der Mediziner oder Ingenieur als Taxifahrer, Kellner oder Hilfsarbeiter ist keine Seltenheit. Bereits damals hat man auf die Feststellung und Förderung von Talenten im Aufnahmeverfahren, aber auch auf eine wirksame nachholende Integration verzichtet. Der Versuch im neu organisierten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Aufnahmeverfahren und Integration miteinander zu verbinden, ist bislang nicht geglückt. So steht Deutschland trotz schmerzhafter Erfahrungen wieder ohne Gesamtkonzept einer neuen Flüchtlingswelle gegenüber. Thematisiert wird vor allem die Unterbringungsfrage in Städten und Gemeinden. Kaum Thema ist die fehlende sprachliche und berufliche Qualifizierung von Flüchtlingen. Die bisherigen BAMF-Sprach- und Orientierungskurse von etwas mehr als 600 Stunden reichen nicht aus. Wenn Politik und Verwaltung nicht umgehend für eine Qualifizierung der weiter steigenden Zahl der Flüchtlinge sorgen, dann schaffen sie ein weiteres Sub-Proletariat mit allen damit verbundenen Gefahren und sozialen Verwerfungen.

Was jetzt Not tut sind nicht nur schnellere und effektivere Verfahren der Anerkennung bzw. Ablehnung von Asylanträgen. Flächendeckend muss im Rahmen des frühen Asylverfahrens, insbesondere bei den Flüchtlingen aus sicheren Herkunftsländern, ein „Talent-Check“ stattfinden. Die danach ausgehändigte „Talent-Card“ berechtigt zur zielgerichteten Teilnahme an beruflichen Vorbereitungs-, Qualifizierungs- und Auffrischungsmaßnahmen. Sofort einsetzende Integrationshilfen bei potenziell anerkennungsfähigen Asylbewerbern sind notwendig, damit diese möglichst schnell in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und an der gesellschaftlichen Wertschöpfung teilzunehmen.


Kurzum: Wir benötigen die Umkehr von einem auf Abwehr ausgerichteten Asylverfahren zu einem potenzialorientierten Prüf- und Aufnahmeverfahren.

Dieses potenzialorientierte Aufnahmeverfahren kümmert sich zunächst um die Flüchtlinge, die bereits da sind und jeden Tag neu kommen. Insbesondere um diejenigen, die nicht aus sicheren Herkunftsländern kommen. Es folgt den Vorschriften des geltenden Asylrechts. Es trägt dazu bei, dass zu uns kommende Flüchtlinge nicht über Monate herumhängen, versauern, traumatisiert werden. Es gibt der Gesellschaft, der Wirtschaft und vielen Betrieben die Chance, früh auf Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente von Flüchtlingen zuzugreifen. Dazu ist nichts weiter nötig als organisatorische Maßnahmen und die Bereitstellung ausreichender Mittel zur umfassenden Sprachförderung und Qualifizierung. Mit oder nach Statusfeststellung als Flüchtling kann der so begleitete Zuwanderer weitgehend für sich selbst und seine Angehörigen sorgen und aktiv Beispiel geben gegen das Vorurteil des „Sozialschmarotzertums“.