Wir brauchen mehr Informationen über die sozialen Bedingungen der Covid-19-Infektion

Wir brauchen mehr Informationen über die sozialen Bedingungen der Covid-19-Infektion
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
 
Da hat SPD-MdL Michael Hübner aber in ein Wespennest gefasst. Er äußerte sich, wie die WAZ berichtete, kritisch über die 15-Kilometer-Regel und gab einen anderen Vorschlag: „Wir müssen an private Feiern ran. Die dürfen nicht mehr stattfinden.“ Diese Feiern würden von Menschen mit Migrationshintergrund veranstaltet werden und würden die Corona-Infektionszahlen nach oben treiben. Natürlich muss man mit derartigen Zuschreibungen vorsichtig sein. Schuldzuschreibungen an bestimmte Bevölkerungsgruppen wirken stigmatisierend und sollten nicht ohne Grund und Gefahr im Verzug und vor allem nicht populistisch genutzt werden.
Gleichwohl offenbart diese öffentliche Kontroverse das eigentliche Dilemma bei der Identifizierung von Infektionsschwerpunkten. Es werden uns zwar täglich neue Zahlen zu Infektionen, Zugängen, Abgängen, Todeszahlen, Intensivpatienten, nach Alter und Geschlecht u.ä. serviert. Die sozialen Hintergründe dieser Infektionen bleiben uns allerdings verborgen. Für Entscheider in der Politik und die interessierte Öffentlichkeit ist es wichtig zu wissen, wie die Infektion sich sozial verbreitet. Die gegenwärtige soziale Spurensuche reicht aber nicht.
In welchen Berufsgruppen häufen sich die Infektionen? Welche Betriebe bilden Infektionsschwerpunkte? Welche Infektionen entstehen in Residenzen, Heimen, Krankenhäusern? Welche Stadtteile mit welchen Wohnbedingungen bilden Infektionsschwerpunkte? Weitere Differenzierungen kann man aus wissenschaftlichen und politischen Gründen sehr wohl noch anfügen. Ohne eine soziale Spurensuche werden wir dem Virus nicht mit passgenauen Maßnahmen begegnen können. Ohne soziale Spurensuche erhält man keine Information dazu welche Bevölkerungsgruppen am ehesten gefährdet sind.
Es gibt die jährlichen Gesundheitsberichte der örtlichen Gesundheitsämter. Darin finden wir z..B. interessante Differenzierungen und soziale Zuweisungen zum Adipositas bei Jugendlichen. Warum gibt es derartige Berichte nicht für die Covid-19-Infektion, die ja inzwischen fast ein Jahr alt ist? Zeit hätte man gehabt. Und vor allen Dingen wäre es hilfreich für die ‚Entwicklung passgenauer Maßnahmen gewesen. Will man derartige Analysen nicht, weil durch derartige Analysen die offenen sozialen Wunden unserer Gesellschaft deutlicher würden? So z.B. bei bestimmten Berufsgruppen oder in bestimmten Wohnquartieren mit unterschiedlichen Sozial- und Einkommensgruppen.
Man muss aus epidemiologischer Sicht und aus sozialpolitischem Interesse eine stärkere Spurensuche und auch eine offene Kommunikation über die Ergebnisse darüber fordern. Derzeit ist die Diskussion über die sozialen Hintergründe der Pandemie in Deutschland offenbar eine geheime Kommandosache, wird verdrängt oder ist nicht gewünscht. Eine politische Kommunikation im Stile von „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ weil wir kein Einwanderungsland sein wollen, praktiziert im letzten Jahrzehnt der Kohl-Regentschaft, wäre bei der sozialen Spurensuche zur gegenwärtigen Pandemie unseriös und politisch unverantwortlich. Wenn man etwas nicht wahrhaben will, dann kann oder will man auch keine Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Gruppen treffen.