Eine politische Krankheit: Migrationsschizophrenie

Eine politische Krankheit: Migrationsschizophrenie

 

Die aktuelle gesellschaftliche Migrationsdebatte zeugt inzwischen von einem erheblichen politischen Realitätsverlust. Bei steigender illegaler Zuwanderung und sinkenden Rückführungsquoten können sich die Bundesregierung und die Europäische Union bislang lediglich rhetorisch auf Änderungen des Zuwanderungsmanagements durchringen. Trotz der begrüßenswerten Bemühung der Bundesinnenministerin auf europäischer Ebene lassen praktische Änderungen nach wie vor auf sich warten. Obwohl für 2023 mit voraussichtlich mehr als 400.000 Antragstellungen ein neuer Höchstwert, nach dem Spitzenwert 2015/2016, zu erwarten ist, herrschen in Deutschland offensichtlich Ratlosigkeit oder wissentliche Tatenlosigkeit.

Doch damit nicht genug: Bei weiter steigenden Zuwanderungszahlen reduziert die Bundesregierung in ihren Haushaltsvorbereitungen für 2024 die finanziellen Mittel für die Integration von Zugewanderten bzw. Geflüchteten. Dabei ist festzuhalten, dass die Integrationsbemühungen im Zusammenhang mit den Zuwanderungsspitzen in 2015/2016 noch gar nicht abgeschlossen sind und Flüchtlinge aus der Ukraine erst jetzt in berufsqualifizierende Maßnahmen eintreten können. . Hier zwei Beispiele für vorgesehenen Streichungen: So werden die Mittel für die Beratung erwachsener Zuwanderer(MBE) von bundesweit 81,5 Mio. Euro auf 57,5 Mio. Euro gekürzt. Die Konsequenz: Einschränkung und Wegfall bei Beratungsangeboten trotz steigender Nachfrage bei Erwachsenen. Ebenso soll der seit den 1990er Jahren wirkende Garantiefonds (Haushaltsvolumen rd. 20 Mio. Euro), einem Beratungs-, Förderungs- und Qualifizierungsprogramm für junge Geflüchtete, die einen Hochschulzugang anstreben, ersatzlos beendet werden. Mehr als eine halbe Million Zuwanderer sind über diesen Weg in den letzten Jahrzehnten zu begehrten und schnell vermittelten Fachkräften ausgebildet geworden. Streichungen bei der Fachkräfteförderung, trotz steigendem Fachkräftebedarf und steigenden Zuwanderungszahlen. Ein Widersinn.

Nicht nur Städte und Gemeinden werden dadurch mit eskalierenden Problemen alleine gelassen. Ebenso werden die seit Monaten wachsenden Sorgen und Ängste in der Bevölkerung vor weiter steigender Zuwanderung schlicht ignoriert. Hinzu kommt, dass die vorhandenen Ängste mit absurden und unrealistischen Forderungen nach Flüchtlingsobergrenzen für den Wahlkampf missbraucht werden. Zwar beklagen alle rechtschaffenden Demokraten den mit dem Migrationsthema zusammenhängenden, zunehmenden Zuspruch zu rechtsradikalen und rechtspopulistischen Parteien und Organisationen, praktische Maßnahmen zur Begrenzung der illegalen Zuwanderung und Ausweitung von Integrationsmaßnahmen werden nicht getroffen.

Eine derartig widersprüchliches politisches Handeln zeugt offensichtlich von einem Verlust des Realitätsbezugs, zeigt desorganisiertes Denken und Sprechen sowie bizarres und unangemessenes Verhalten, offenbart Denkstörungen und die Beeinträchtigung des Handelns im gesellschaftlichen Leben. Laut MSD-Manual (einem medizinischen Nachschlagewerk)u. a. sind das alles Hinweise auf eine Schizophrenie. Im Zusammenhang mit der Zuwanderungsfrage handelt es sich offensichtlich um eine Migrationsschizophrenie. Wer bei steigenden Zuwanderungszahlen, zunehmenden gesellschaftlichen Verwerfungen und Gefährdungen unserer Demokratie nicht handelt, dazu auch noch die für die gesellschaftliche Befriedung notwendigen Integrationsmittel kürzt, der muss jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität verloren haben.

Was also tun? Die Begrenzung von illegaler Zuwanderung und die Entwicklung eines effektiven Anerkennungsmanagements mit wirksamen Verfahren an den Außengrenzen sind eine Grundvoraussetzung für eine Befriedung der Lage. Das heißt, bei aller Empathie für die persönlichen Nöte und Hoffnungen von Flüchtlingen ohne Anerkennungschancen, dass alle Wege für eine Rückführung gefunden und genutzt werden müssen. Das gegenwärtige System ist ein soziales Perpetuum mobile. Jeder hier mit staatlicher Hilfe geduldete Flüchtling multipliziert positive Narrative über die Chancen in seinem gegenwärtigen Aufenthaltsland. Was früher die Briefe der Spätaussiedler an ihre Verwandten in Sibirien, an der Wolga oder in Kasachstan mit dem Verweis auf die bisher schon erstandenen „Wohlstandsymbole“ waren, das leisten bei der Vielzahl der Flüchtling aus Afrika, Asien und anderen Teilen der Welt die sozialen Medien und das Mobiltelefon. Nur wesentlich schneller und effektiver.

Dabei stellt die für die Herkunftsländer der illegalen Zuwanderer exorbitant hohe finanzielle Unterstützung in Deutschland gleichsam ein doppeltes Problem dar. Sie ist ein Beleg für das zurück in die Herkunftsländer vermittelte Narrativ eines quasi „Gelobten Landes“ und schafft in der Gefühlslage eines immer größer werdenden Teils der einheimischen Bevölkerung ein Gerechtigkeitsproblem. In ökonomisch und sozial schwierigen Zeiten erhalten Flüchtlinge gefühlt den gleichen oder gar höheren Sozialleistungsstandard wie Einheimische. Jenseits dieser Gerechtigkeitsdebatte wird es notwendig, die Sozial- und Transferstandards in Europa zu harmonisieren. Dabei darf auch ein Primat von Sachleistungen vor Geldleistungen kein Tabu sein. Es gilt, die werbende Informationskette quantitativ wie qualitativ auf ein erträgliches und realistisches Maß zu rückzuführen und den Gerechtigkeitsblick zu entspannen.

Zu einem effektiven Anerkennungsmanagement gehört auch die notwendige Mitwirkung im Anerkennungsverfahren. Wer diese verweigert, Angaben fälscht oder im Verfahren täuscht, der hält sich widerrechtlich in Europa auf. Sein Handeln ist dabei vielfach strafbar. Wer als Schöffe oder interessierter Laie an Strafgerichtsverfahren gegen Migranten teilnimmt, der erlebt nicht selten, dass hier zu verurteilende Straftäter mit mehreren Identitäten und Ausweispapieren auftauchen. In solchen und ähnlich gelagerten Fällen kann es auch keine Freizügigkeit geben. Vielmehr ist im Gegenteil Abschiebehaft unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze notwendig. Dass eine Rückführung bei illegalem Aufenthalt nicht einfach ist, haben wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Deshalb müssen hier die bilateralen Bemühungen mit den Herkunfts- und Transitstaaten verstärkt und Abkommen mit Drittstaaten ausgeweitet werden. Allerdings werden wir dabei nicht unsere Ansprüche an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können.

Bei Flüchtlingen mit Anerkennungschancen ist es wichtig, dass sie schnellstmöglich über den Weg der sozialen und beruflichen Integration anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Hier muss man den Pfad der Zufälligkeit verlassen und gleich im Zusammenhang mit dem Anerkennungsverfahren einen Talentcheck durchführen, der in zugewiesenen Wohnorten direkt zu angepassten Qualifizierungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten führen kann. Dass Flüchtlinge ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein können, kann man bei vielfältigen Qualifizierungsprojekten feststellen. In den durch Bildungseinrichtungen des Handwerks und der Otto Benecke Stiftung e. V. (OBS) durchgeführten Maßnahmen (GidA – Gemeinsam in die Ausbildung) haben es fast 90 % der teilnehmen Flüchtlinge aus den Jahren 2015–2019 zu einer anerkannten Berufsausbildung und anschließender Beschäftigung gebracht. Warum nicht derartige Ansätze durch gemeinsame Kraftanstrengungen mit Handwerks- und Handelskammern u. a. gleich zur Regel zu machen? Eine weitere Kürzung oder weitgehende Streichung von Integrationsmitteln, wie gegenwärtig geplant, ist allerdings ein katastrophaler und gesellschaftlich kranker Weg.

Es bleibt zu hoffen, dass die politischen Akteure des demokratischen Lagers unseres Landes, aber auch Europas, die Kraft aufbringen, einen gesellschaftlich anzustrebenden qualitativen wie quantitativen Gleichklang von Zuwanderungssteuerung und Integrationsbemühungen zu erreichen. Gelingt das nicht, dann werden Rechtspopulisten in Deutschland und Europa die migrationspolitische Marschrichtung stärker bestimmen. Das wäre weder ein Gewinn für Europa und die Demokratie noch für Flüchtlinge dieser Erde, die unsere Hilfe dringend benötigen.