Brief an unsere türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger

Brief an unsere türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger

Liebe türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.

In den nächsten Wochen können Sie über ein Referendum für Ihr Herkunftsland abstimmen, das Ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan diktatorische Machtfülle verleihen würde. Die Venedig-Kommission des Europarates kommt  hierzu zu dem Ergebnis, dass das Land vor einem „dramatischen Rückschritt der demokratischen Ordnung“ stehe und auf dem Weg „zu einer Autokratie und einem Ein-Personen-Regime“ sei.

Fast 1, 5 Millionen Menschen mit türkischem Pass in Deutschland werden bei dem Referendum mitentscheiden können. Deshalb tobt auch bei uns ein intensiver Abstimmungskampf. Deutschland zählt zu den demokratischsten und freiheitlichsten Ländern der Welt.  Auch wenn bei uns nicht alles perfekt ist. Aber bei uns darf jeder seine Meinung äußern, die Regierung kritisieren, sich politisch betätigen, so leben, wie er will – ohne dass sich daraus Nachteile ­ergeben, ohne dass jemand deswegen seine Stelle verliert oder gar verhaftet und gefoltert wird. Und selbstverständlich sind Männer und Frauen, Christen und Nichtchristen, Regierungsanhänger und ­Oppositionelle gleichgestellt. Diese Freiheiten sind uns heilig – sie machen unser Deutschland aus!

Wir zwingen außerhalb ­unserer Landesgrenzen niemandem unsere Werte auf. Wir sagen der Welt nicht, wie sie zu funktionieren hat. Doch wir haben Erwartungen an die Menschen, die bei uns leben wollen – also an Sie, liebe türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland. Wer hier lebt, hat unsere Werte zu respektieren, muss einstehen für die Freiheiten, von denen er profitiert – gleiche Rechte für alle: Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung. All das soll jetzt in Ihrem Herkunftland oder dem Herkunftland Ihrer Eltern und Großeltern ausgeschaltet werden. Aus meiner Zusammenarbeit mit vielen türkischstämmigen Freunden weiß ich, dass das ein großer Teil unserer türkischstämmigen  Mitbürgerinnen und Mitbürger auch so sieht. Ich spreche deshalb bewusst  diejenigen an, die  in Gesprächen, Medien und sozialen Netzwerken als Deutsch-Türken Erdogan und seinen Weg in die Autokratie befürworten.

Es ist an den Menschen in der Türkei zu entscheiden, ob sie das wirklich wollen. Für uns Deutsche aber ist es inakzeptabel, wenn jemand hier von Freiheit und Rechtsstaat profitiert und diese gleichzeitig im Herkunftsland, in der Türkei abschaffen will. Hasskommentare im Netz, Jubel bei Hitler- und Nazi-Vergleichen aus der Türkei. Das geht nicht. Das stößt hier auf Unverständnis.  Das behindert oder verhindert  den dringend weiter notwendigen Integrationsprozess.  „Wer in seinem Heimatland diktatorische Verhältnisse einführen will – bitte schön“, so ein Boulevard-Zeitung. „Aber dann soll er auch unter ihnen leben.“ (Blick) Derartige oder weitergehende Forderungen mehren sich. Eine Entwicklung, die es zu stoppen gilt.

Deshalb rufe ich allen türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürger in  Deutschland auf: Wenn Sie zur Abstimmung gehen, stimmen Sie mit Nein beim Referendum und damit  mit Nein zu einem autoritären System in der Türkei.

Allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern rufe ich zu: Lasst uns gemeinsam für eine bessere Integration, mehr Chancengleichheit und gegen soziale Ungerechtigkeit in Deutschland arbeiten. Das ist unsere gemeinsame Heimat. Für ein noch besseres Deutschland müssen wir streiten und arbeiten —- und nicht für die Beseitigung der Demokratie in der Türkei.

Herzlichst

Ihr

Jochen Welt

(Foto: Türkeioriginal_R_K_by_Helga Ewert_pixelio.de)