COVID 19 – Es ist Zeit für eine Wertediskussion
„Wir halten Freiheit, Menschenwürde, Chancengleichheit und Freizügigkeit für ein ebenso wichtiges Gut wie Gesundheit“ – so der Abschlusssatz im sog. Recklinghäuser Appell (RZ vom 201020). Da muss man gleich auf den ersten Blick widersprechen. Menschenwürde ist der oberste Wert unserer Verfassung, von dem alle anderen Werte abgeleitet werden können.
Nach Immanuel Kant besteht Menschenwürde in der Achtung vor dem Anderen, in der Anerkenntnis seines Rechts zu existieren und in der Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Voraussetzung für die Wahrnehmung von Menschenwürde ist allerdings die physische und psychische Existenz des Menschen und damit das Primat der körperlichen Unversehrtheit in unserem gesellschaftlichen Wertekanon.
Würden wir diese Reihenfolge nicht akzeptieren, so müssten wir uns bei denjenigen einreihen, die Entscheidung über den Wert von Leben und Nicht-Leben von der Realisierung von wichtigen oder sogar – hoffentlich nicht mehr vorhandenen- gefährlichen Einzelinteressen abhängig machen. Die Diskussion über Leben und Nicht-Leben haben wir im Zusammenhang mit der Diskussion um den § 218 intensiv führen können. Bei der damaligen Diskussion ging es um den Schutz des ungeborenen Lebens. Jetzt, im Zusammenhang mit Corona, geht es um den Schutz von insbesondere gefährdeten und älteren Personengruppen vor Krankheit, Beeinträchtigung und Tod. Welche Werte sollten da wichtiger sein?
Ach ja so sagt man, die Todeszahlen sind zu vernachlässigen und die Dauerschäden sind noch nicht abschließend erforscht. Zumindest da hilft der Blick auf vielfältige Forschungsergebnisse. Für den Zeitraum von März bis Juli 2020 haben Dr. Steven H. Woolf und Kollegen, (Virginia Commonwealth University School of Medicine, Richmond, Virginia, USA), einen Anstieg der Todesfälle um 20% festgestellt.
USA! Trump! Na klar. Aber es ist der gleiche Virus und wir sind nur besser mit besseren Maßnahmen. Maßnahmen die nicht nur mich sondern vor allen Dingen meine Mitmenschen schützen. „Jeder und jede soll Maske tragen, wenn sie oder er das will“, schon diese Aussage in dem o.g. Appel zu diesem kleinen Lappen in unserem Gesicht offenbart die Prioritäten in der eingangs gemeinten Wertediskussion.
Über Schutzmaßnahmen im Straßenverkehr u.a. werden derartige Werte-Diskussionen erst gar nicht geführt. Weder der Gurt – zum Selbst- und Mitfahrerschutz- begrenzen unser Freiheitsgefühl. Im Arbeitsschutz und in vielen anderen Bereichen fühlen wir uns ebenso wenig begrenzt. Es ist uns selbstverständlich. Die Bergleute Untertage hätten ihren Beruf in ständiger Gefahr ohne diese Schutzmaßnahmen – ohne Rücksicht auf den Kumpel erst gar nicht wahrnehmen können. Es geht um den Schutz des Lebens – und nicht nur um unser eigenes Leben. Und diese Sichtweise ist gut so. Sie zeigt die Humanität unsere Werte gegenüber Ländern wie China, Russland, Nordkorea und manchmal auch Amerika.
Und die anderen so wichtigen Werte? Freizügigkeit, Chancengleichheit, Berufsausübung, Recht auf Bildung der heranwachsenden Generation? Es ist überhaupt nicht mehr zu verstehen, warum Regierungen und Parlamente nicht seit Beginn der Pandemie Maßnahmen und Regelwerke erarbeitet haben in der ein Leben mit dem Virus weitestgehend möglich wird. Da rettet man Lufthansa und TUI für Milliarden – das ist gut für Arbeitsplätze und Aktionäre – und man ist nicht in der Lage wirksame Lüftungssysteme in Schulen zu installieren? Das gleich gilt für Gaststätten, Hotels, Restaurants und das Veranstaltungswesen. Wieder der Bergbau: Ohne eine funktionierende Lüftung wäre der gar nicht möglich gewesen. Warum schafft man das bei uns nicht, ergänzt um die wirksamen HEPA-Filter? Oder, der öffentliche Gesundheitsdienst, die Gesundheitsämter mit der Nachverfolgung der Infektionen? Seit März hätte man dort aufrüsten müssen, hätte vorbereitet sein können. Heute gibt es wieder die gleichen Klagen wie im Mai d.J. Da lamentiert man über die Corona-App, auch so eine Frage der Werte-Prioritäten. Sie gehört verpflichtend eingeführt, mit einer Förderung für die individuelle Nachrüstung auf neuere Modelle. Und, und, und…..
Was ich total unterstütze ist der Appel für einen intensiveren öffentlichen Diskurs. Warum gibt es nicht in jeder Kommune eine Pandemie-Werkstatt, in der ein repräsentativer Teil der Bevölkerung vertreten ist, und in dem man über Sinn oder Unsinn bestimmter Maßnahmen in den jeweiligen Lagen diskutiert. Dazu gehört aber auch, dass der Bundestag in Sachen Pandemie wieder seine Aufgabe wahrnimmt. Er kontrolliert des Regierungshandeln. Und er formuliert die Gesetze nach öffentlichem Diskurs. Das Handeln der Regierung nach selbstverfassten Rechtsverordnungen darf nicht zum Normalfall werden. Ein derartiger öffentlicher Diskurs würde die Wertediskussion aus der zynischen Heimlichkeit an die Öffentlichkeit bringen und so Interessenlagen offenlegen. Vielleicht können wir dann den „kleinen Trump“ in uns, Narzissmus und Egoismus, in seine Schranken weisen und uns mehr auf die Solidarität in unserer Gesellschaft konzentrieren.