Der Tod eines Pfarrers

Der Tod eines Pfarrers

 

„Es ist genug. Der Herr hat ihn zu sich gerufen.“ So stand es in        

der Todesanzeige für Pfarrer Reinhard Naumann, der am letzten

Montag, dem 30. Oktober 1990  auf dem Dachboden seines Wohnhauses erhängt aufgefunden wurde.

Er war in unserer thüringischen Partnerstadt Schmalkalden sehr beliebt, war nicht nur erster evangelischer Pfarrer, sondern auch Stadtverordnetenvorsteher seit der ersten freien Kommunalwahl in der damaligen DDR.

Ich kannte den 45-jährigen von einigen Begegnungen in Schmalkalden. Er hielt am 3. Oktober 1990 im Recklinghäuser Rathaus die Festrede. Quasi das Gegenstück zur Polit-Büro-Rede von Klaus Schubert – gut ein Jahr vorher. Er sprach zur deutschen Einheit, über Freude und Perspektive, Schuld und Hoffnungslosigkeit. Das, was er überbrachte, war herzlich und ehrlich. Voller Kraft, voller Gottvertrauen. Mit seiner ihm eigenen Vitalität, mit seiner seelischen Kraft hat dieser 45-jährige vollbärtige Theologe vielen Menschen in den Wochen der Revolution Halt und Zuversicht gegeben.

„Es ist genug“, so stand es in der Todesanzeige, und nun sitze ich in der Kirchenbank von St. Georg, der Stadtkirche von Schmalkalden – seiner Wirkungsstätte. Und dieser kraftstrotzende Mensch, dieser Ausbund an Zuversicht und Fröhlichkeit liegt zwanzig Meter von mir entfernt in einem hellen Eichensarg. Davor Berge von Kränzen und Blumen mit Grüßen und Sprüchen.

In mir läuft ein Film ab. Meine Augen kleben an seiner Ruhestätte. Ich stelle mir vor, wie dieser kräftige, bärtige Mann da in diesem engen Sarg liegt. Ich sehe ihn vor mir in Aktion, wie er seine Predigt hält, lächelnd, gewinnend, beweglich und bewegend. Alle, die ihn haben reden hören, waren sich einig: von ihm gehe etwas Bemerkenswertes aus, etwas, das einen fessele, in den Bann ziehe, nicht mehr loslasse, überzeuge und mitnähme zu neuen wichtigen Aufgaben und Zielen.

Er hatte bei uns um Verständnis für seine Landsleute in der ehemaligen DDR geworben, uns erklärt, dass bei aller Freude über die deutsche Einheit viele seiner Mitbürger ihre bisherige Identität verloren haben, Identität mit einem Unrechtsystem zwar, aber es war eben doch Halt, Korsett, Rüstung und auch vielfach Perspektive.

Die Würde, der Stolz der Menschen darauf, das lag ihm am Herzen, denn „auch wir haben über vierzig Jahre nach unseren Möglichkeiten hart gearbeitet.“ Freiheit, das war ihm mehr als Semantik. Er hatte für diese Freiheit seit 10 Jahren gearbeitet, in den Diskussionsrunden der Kirche, in den Jugendgruppen und später bei den Friedensgebeten.

Ich konnte an einem solchen Friedensgebet im November 1989, kurz nach der Zeit der Unterzeichnung unserer Partnerschaftsurkunden  teilnehmen. Die Grenzen waren geöffnet, die Mauer gefallen.

Es war die Zeit der hasserfüllten Abrechnung mit dem alten Staat. Es begann die Zeit der Abrechnung mit der Staatssicherheit. Naumann warb für einen eigenen Weg, für die sozialverpflichtete Freiheit des Einzelnen, weil er die Gefahr sah, dass der Terror der Staatsorgane nun durch den Terror des Konsums und des Egoismus abgelöst würde. Er besänftigte die durch Stasi- Bespitzelung aufgewühlten Massen.

Unvergessen ist mir der gespenstige Abend vor dem Stasi-Gebäude in Schmalkalden. Irgendwie lag etwas Gefährliches, gar Sprengstoffartiges in der Luft an jenem Abend, als Timo vom Neuen Forum mit uns zur Stasizentrale ging. Nass war der Abend, der Qualm der verbrannten Braunkohle in den Wohnungen machte das Atmen schwer. Die Wege waren nicht gut ausgeleuchtet bis zu dieser alten Villa, die mit einem hohen Stahlzaun umgeben war.

Timo erzählte uns  bei unserer nächsten Begegnung im Dezember 1989 was am 6. Dezember 1989 beim Marsch auf die SED-Kreisleitung und beim Sturm auf die Stasi-Kreisdienststelle ablief.Vor dem Haus der Stasi, das wir von unserem Besuch kannten,  waren Menschenmengen mit Transparenten  aufgezogen. Texte und Sprüche wie „Wir sind das Volk“ – „Stasis weg. Akten raus.“ Aber auch einzelne Rufe: „Stellt den Spitzel an die Wand. Gehrmann verrecke.“ Angst kam hoch. Das, was sich wie politischer Protest anließ, wurde jetzt bitterer Ernst. Das Volk kochte.

Timo vom Neuen Forum erzählte weiter:„Um einen qualmenden Papiercontainer standen zwanzig, dreißig Menschen herum, schimpften, fluchten und versuchten, den Container umzukippen. Eine andere Gruppe von zwanzig eher älteren Typen versuchte ins Gebäude zu gelangen. Von ihnen wurde alles unternommen, um die Gruppe daran zu hindern. Hinter der Glastür war  die massige und bärtige Gestalt von Reinhard Naumann zu erkennen. Er redete auf andere ein. Drehte sich um, wollte die Außenstehenden beruhigen. Doch die Tür wurde aufgerissen, die Gruppe stürmte herein.

„Gehrmann, wir kommen“, schallte es. Der Mann mit Namen Gehrmann war der Chef der Stasi-Bande gewesen. Offensichtlich hatte er sich in einen Nachbarraum gerettet, der durch ein Scherengitter vom Foyer getrennt war. „Gib die Akten raus, Du Schwein“, so riefen die Menschen aufgebracht. „Wir holen Dich da raus!“

Der stämmige Pfarrer schob sich durch die Menschenmassen. Bereitwillig, ohne Murren, machte man ihm Platz. „Ruhe, so geht das nicht“, schrie er. „Hier passiert keinem was, alles läuft hier ordentlich ab.“ Aufgebrachtes Raunen schlug ihm entgegen.

Nur widerwillig stimmten sie seinem Vorschlag zu, einer Delegation die Sichtung der Akten zu überlassen. Von Polizei war in dieser Zeit nichts zu sehen und zu hören. Erst zwei Stunden später traf ein Vertreter der Staatsanwaltschaft ein. Es hatte Naumann Kraft gekostet, die Menschen zu beruhigen. Seine Revolution sollte eine unblutige sein. Und sie stand in Schmalkalden kurz davor umzukippen. Aber er schaffte es, keinem passierte etwas.“

Und so schrieb Norbert Heyer in seiner Chronik dieser Zeit (Der kleine Sozialismus):  „6.12.1989: Der Schmalkalder Pfarrer Reinhard Naumann erreicht durch seinen mutigen Einsatz, dass es zu keinen blutigen Gewaltmaßnahmen kommt.“

In den Tagen danach begannen er und die Gruppe aus 7 Vertretern des neuen ‚Runden Tisches‘ mit der Sichtungsarbeit. Naumann berichtete mir später, wie erschreckend diese Arbeit war, ohne jedoch Namen zu nennen. Er kannte die Informanten, die Denunzianten, die vielen netten Nachbarn und auch die Stasifunktionäre der alten, aber auch die der neuen Spezies, der Unverbesserlichen und der Wendehälse.

Aber nicht er war der Richter, er hatte nicht zu verurteilen. Er bemühte sich, das alles, was er        in dieser Zeit erfahren hatte, zu verarbeiten. Man merkte die Last auf seiner Seele. Man spürte sie, wenn man bei seinen Besuchen hier über die Stadtverwaltung sprach, über die Mitarbeiter in Spitzenfunktionen, man merkte es, wenn es um Geschäftsführer der neuen Betriebe ging. Er kannte ihr früheres Wirken, aber er schwieg sich aus, weil er wusste, welche Lawine er lostreten würde, wenn Einzelheiten veröffentlicht würden. „Das müssen die Gerichte klären“, war seine Auffassung.

Nicht selten wurde er angefeindet, als linker oder roter Pastor verschrien. So, wie er sich diese neue Freiheit vorgestellt hatte, lief es nicht. Der Auszug Moses, der Weg ins gelobte Land, der Marsch des geeinten Volkes – das war seine Vision, dafür hatte er gearbeitet, gekämpft, gelitten. Aufgebrochen waren sie gemeinsam. War die deutsche Einheit das gelobte Land? Bedeutete sie die Freiheit, die Naumann meinte? Für eine selbstverantwortete Freiheit gekämpft zu haben und jetzt neue Unfreiheiten erleben und auch verantworten zu müssen! Für diese Freiheit gestritten zu haben und jetzt die vielen sozialen und persönlichen Probleme, die große Perspektivlosigkeit zu sehen und mitverantworten zu müssen – das greift an, macht fertig, macht depressiv.

Pfarrer Naumann wurde in den letzten Wochen depressiv. Seine Kraft war verzehrt, aufgebraucht in der Verantwortung der letzten Monate. War es das „Es ist genug…“ aus der Todesanzeige? Aber er war doch Pfarrer, dachte ich mir – und trotzdem Selbstmord?

Mein Blick ließ den am Fuße des Altars stehenden Sarg los. Zufällig entdeckte ich einen alten Bekannten aus der ehemaligen artnerschaftsdelegation. Er war damals Mitglied einer Blockpartei und inzwischen wieder in guter Funktion tätig.   Ich  weiß noch, wie er mich bei meinem ersten Besuch in Schmalkalden anlässlich eines Gewerkschaftstreffens mit einer Gruppe empfing und mir die Lobpreisungen des DDR-Sozialismus vermitteln wollte. Das waren gerade 1 1/2 Jahre her. Es lief für ihn alles gut. In der Stadt,  in der Wirtschaft, die Menschen seien zufrieden. Ganze drei Familien hätten einen Ausreiseantrag gestellt. Das ‚Glück‘ schaute den verschüchterten DDR-Bürgern damals aus den Augen. 

Zu den Kommunalwahlen formierten sich die Schmalkalder Parteien. Natürlich mussten auch neue Leute ran, der Landratskandidat, der Bürgermeisterkandidat –  sie alle wurden gefunden. Die Wahl in Schmalkalden brachte der CDU fast die absolute Mehrheit, die SPD hatte Schwierigkeiten, sich überhaupt zu formieren, überhaupt Leute für die Mandate zusammen zu bekommen. Pfarrer Naumann, ein Mann der friedlichen Revolution, kandidierte als Parteiloser auf der SPD-Liste. Er hatte persönlich ein hervorragendes Ergebnis, die SPD notierte gut 20 %. Doch zufrieden konnte er nicht sein.

Er hatte mir von seinem Ärger über diese Wendehälse berichtet, über die aalglatten, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Verbänden, der Wirtschaft und in der Kirche. Natürlich wusste er, dass ein neuer Anfang nicht ausgrenzen kann. Ausgegrenzte Minderheiten, die auch gut Mehrheiten sein können, lassen sich nicht in die Ecke stellen, sie haben ein Aggressionspotential und können gefährden. Man muss sie einbinden, meinte Naumann.

Aber zornig und dann mutlos machte es ihn, wenn diese guten Bürger, ihre Vergangenheit verleugnend, sich aus den neuen Töpfen mit ihren alten Gabeln gut bedienten. Er war empört, wenn diese in den Chor der SED-Beschimpfer einstimmten, gerade diejenigen, die von und mit dieser Partei gestern noch gut gelebt haben. Mein Bekannter aus der Partnerschaftsdelegation ist nur einer von vielen, kein gefährlicher Mann, aber sicher waren es Männer wie er, die Pfarrer Naumann gemeint hat, die ihn aufgeregt haben, die eine ehrliche Aufarbeitung der eigenen Geschichte so erschwert haben.

Der Weg nach vorn, in eine selbstverantwortete und selbstgestaltete Freiheit, war nach seiner Meinung durch solche Leute verstellt. Es wurden für ihn nur die Führungsfiguren ausgetauscht. Früher waren es die SED-Spitzen, heute die zwar demokratisch, aber eben auch von oben herab Regierenden, denen man jetzt zujubelte, durch die man sich einlullen ließ, von denen man profitierte. Das zehrte, das ließ keine Perspektive zu, das kostete Kraft. War dies Naumann’s  „Es ist genug…, ich kann nicht mehr, ich sehe keinen Weg mehr”, wie es in der Todesanzeige stand?

Eine Reihe vor mir saßen junge Leute, wohl die Junge Gemeinde. Tränen standen in ihren Augen. Hilflos wirkten sie, als habe man ihnen die Energiequelle genommen. Der rothaarige Timo vom Neuen Forum, er rang um Fassung. Das gelang ihm bis zu den ersten Sätzen des Pfarrers, der das Leben Naumanns und sein tragisches Schicksal beschrieb.Timo schluchzte, als der Seelsorger an die tragischen und gefährlichen Stunden in der Stasi-Zentrale erinnerte. Timo war dabei gewesen, hatte alles miterlebt. Pfarrer Naumann hatte ihm Halt und Sinn gegeben – und jetzt sein Freitod.

Warum hat er sie alle allein gelassen?Warum, fragte Timo sich, müssen die Falschen dran glauben?Warum er, mit seinem geraden, aufrichtigen Weg, er, der Halt und Stütze für viele junge Menschen nicht nur in der Kirchengemeinde war?!

„Unser Bruder Winfried Naumann hat mit uns gemeinsam den neuen Weg gesucht und gefunden“, sagte der Pfarrer. „Er hat sein Land und seine Menschen geliebt. Für ihn war das, wie bei Moses, der Aufbruch zu einem ‚gelobten Land‘. Moses hat den Einzug in das gelobte Land nicht mehr erlebt. Auch unser Bruder wird das ‚gelobte Land‘, so wie er es sah, nicht mehr erblicken. Er hat mit uns den Weg aus der Unfreiheit gefunden, aber die Steine, die auf diesem Weg lagen oder die auf den Weg gelegt wurden, waren für ihn lebensbedrohlich, sie machten für ihn die Fortsetzung des Weges aussichtslos. Wir, die wir auf diesem Weg zurückbleiben und weitergehen, weiter das ‚gelobte Land‘ suchen, wir sind ohne ihn ärmer und aussichtsloser. Wir, die wir zurückbleiben, haben es schwer, seine Entscheidung und sein Handeln zu verstehen.“

War es das, was das ‚es ist genug‘ in der Todesanzeige ausmachte? Die vielen Klippen, die Unwegsamkeiten, die Beschwerlichkeiten auf seinem Weg? Man will es nicht glauben. Nicht bei einem, der soviel für seine Mitmenschen in lebensbedrohenden Zeiten erreicht hatte. Aber was war es sonst?

Der Gottesdienst war beendet. Der Pfarrer bat darum, dass nur die Angehörigen an der Beerdigung teilnehmen sollten. Ein letzter stiller Gruß dem Mann, der nun in seinem Sarg an mir vorbeigetragen wurde.Eine Verneigung vor dem Menschen und vor der Hoffnung, die er mir vermittelt hat. Eine Hoffnung der Realitäten, eine Hoffnung ohne marktschreierischen Glorienschein. Keine Verkleisterung der Probleme unserer West-Gesellschaft. Männer wie er haben in der neuen Einheit unseres Volkes die politische, die menschliche Kultur bereichert. Warum sollen sie jetzt keinen Platz mehr haben? Sie stören wohl durch ihre Nachdenklichkeit und durch ihre Fragen nach dem wirklichen Wohl der Menschen. Ich folgte der großen Schar der Trauergemeinde. Neben mir Mandatsträger aus Schmalkalden unter ihnen ein integrer Mann der evangelischen Kirche. Er flüsterte mir zu: „Er war in der letzten Zeit so seltsam geworden, so realitätsfremd. Es musste wohl so kommen.“

Ja, die Schuldfrage, sie wird personifiziert, an ihm festgemacht. Er hat versagt, und das als Pfarrer. Als Mann der Kirche! Kein Gedanke an die gesellschaftlichen Randbedingungen. Keine Gedanken an den eigenen Anteil an dieser gesellschaftlichen Realität. Kein Wort zu der Menschenjagd, die seit dem 14. Oktober, dem Tag der Landtagswahlen, auf Reinhard Naumann und fünf weitere kritische Schmalkalder eröffnet war.

Ich erfuhr davon zunächst von Gitta Brunnel, einer jungen Sozialdemokratin, damals Mitglied des Stadtrates. Ihr schien durch den Tod des Pfarrers der Boden unter den Füßen weggezogen worden zu sein. Hass kam auf bei ihr gegen die Wendehälse, die ständigen Verleumder, gegen die offensichtlich noch funktionierenden Stasi-Strukturen.Eine Liste mit 6 Namen war zeitgerecht zu den Wahlen in Umlauf gebracht worden. Männer, die als Verbindungsleute zur Stasi bezeichnet wurden. Darunter Pfarrer Naumann und auch Prominente aus der Sozialdemokratie und anderen Gruppen. „Diese Stasis arbeiten noch, diese Schweine“, fluchte Gitta. „Sie machen alles nieder, sie arbeiten jetzt mit anderen Mitteln. Sie denunzieren, machen integre Menschen kaputt. Und bei uns gibt es Menschen, die das nachbeten, ungeprüft in die Öffentlichkeit bringen aus persönlichen oder parteipolitischen Interessen. Die machen sich schuldig, die nützlichen Idioten des alten Regimes“.

Gitta Brunnel hatte mir bestätigt, dass es bei diesem Freitod um mehr gehen musste als nur um den dornenreichen Weg in eine unklare Zukunft. Verleumdung und Denunziantentum hatten wohl den Ausschlag gegeben. Es ist Wahnsinn, diesem Mann Stasi-Aktivitäten zu unterstellen. Aktivitäten zur Sicherung des SED-Unrechtstaates, zur Unterdrückung der Menschen, seiner Gemeinde. Aber die Liste? Gibt es nicht doch Verbindungen? Ich wollte meine Zweifel im Anblick des Todes dieses Menschen zunächst verdrängen. Nein, ich musste mich dieser Frage stellen.

Keiner von denen, mit denen ich sprach, glaubte an aktive Stasi- Beziehungen von Naumann. Alle sprachen von Verleumdung, alle sprachen von der Menschenjagd und von der Angst, dass das jetzt so weitergeht, dass die Stasi weiter ihr Süppchen kocht. „Wer steht von uns nicht in den Stasi-Akten?“, warf Gitta Brunnel ein. „Du warst doch auch schon mal hier“, meinte sie zu mir, „über Dich wird es hier auch Material geben. Die werden alles nach und nach mit Halbwahrheiten, Unwahrheiten, Verdrehungen in die Öffentlichkeit bringen. Die Stasi lebt. Die Organisation steht und hat Milliarden, die arbeiten als Biedermänner und Brandstifter im öffentlichen Untergrund.“

Ich war wie erschlagen. Nicht wie sonst, wenn ich aus der ehemaligen DDR nach Hause fuhr. Dies war existentieller. Ich begriff, dass es sich nicht mehr um das Problem ‚der da drüben‘ handelt. Es waren unsere Probleme. Das gilt auch für unsere Städtepartnerschaft. Was da läuft, läuft in unserer Partnerstadt. Läuft bei Menschen, die wir kennen, die wir schätzen gelernt haben und mit denen wir jetzt gemeinsam Verantwortung tragen. In einer Städtepartnerschaft kann man derartig unbequeme Dinge nicht einfach ablegen, verstecken. Nein, sie kommen von selbst hoch. Der Tod von R. Naumann hat es gezeigt.

Wir hatten die Einheit gewollt – mehrheitlich hüben wie drüben. Eine Einheit des politischen und wirtschaftlichen Systems, ohne  die existentiellen Sorgen der Menschen ausreichend zu beachten.In dem Klima der Angst und Unsicherheit, bei der inzwischen oft verbreiteten Perspektivlosigkeit, die vielen Menschen blieb, gedeihen Neid, Missgunst, Denunziantentum. Hier werden Sündenböcke gesucht und gefunden. Hier entsteht eine gefährliche, in öffentlichen Gesprächen und bei Wahlen nicht spürbare Aggressivität und eine oft menschenverachtende Radikalität. Egoismus zur Durchsetzung der eigenen nun möglichen Lebensziele um jeden Preis ist angesagt. Wie weitsichtig muss Politik sein? Wie weitsichtig kann Politik sein? Hätte man derartige Entwicklungen nicht vorhersehen müssen?

Naumann hatte sie vorhergesehen. Er wollte die eigene Aufarbeitung der Vergangenheit seines Landes. Er wollte die Aufarbeitung der Fehler, die Überwindung des Unrechtstaates mit eigenen Mitteln und eigenen Leuten. Er wollte die Aufarbeitung der eigenen Identität, um sie in ein geeintes Deutschland einzubringen. Er wollte von der Freiheit für seine Menschen zu dem inneren Frieden seiner Menschen kommen. Das hat er nicht geschafft, er ist selbst Opfer dieses, von ihm so bekämpften inneren Unfriedens in den Menschen seines Landes, in diesen frühen Tagen der Einheit geworden.

Als ich in meine Wohnung kam, fand ich einen Brief vor. Er war 10 Tage alt. Er kam aus Schmalkalden von Reinhard Naumann, an dessen Trauerfeier ich teilgenommen hatte. Der Brief war ein Abschiedsbrief, ohne mit nur einem Wort auf diesen Abschied direkt  zu erwähnen.Er schilderte mir eine ‚existenzbedrohende neue Gefahr‘ durch die Stasi-Verleumdungen. Er nannte mir den Namen des mir bekannten Denunzianten.

Es war der Landtagskandidat, der damals für die DSU [1] in Thüringen kandidierte.  Dieser Mann, der mir durch seine unangenehme Erscheinung in Diskussionen aufgefallen war. Ein Mann, der mich an die Gestapo-Typen aus schlechten Filmen über die Hitler-Diktatur erinnerte. Ein Mann, der seelenruhig neben mir in der Kirche saß. Ändern sich die Menschen nicht, nur die Systeme, in denen sie leben?

Reinhard Naumann schrieb mir, dass er mir von diesen Vorwürfen berichten möchte, bevor ich es von anderer Stelle     hören würde. Sie seien eine bittere Verleumdung. Er könne mich an dieser Stelle nur um mein Vertrauen bitten. …Und es hat schon seine Zeit gedauert bis man offizielle und öffentlich von den „nachweislich falschen IM-Vorwürfen“ gegen Reinhard Naumann gesprochen und geschrieben hat. Für Naumann zu lange.

„Es ist genug…“, so stand es in der Todesanzeige. In seinem Abschiedsbrief an seine Familie stand: „Meine Kraft reicht gegen den Druck einfach nicht mehr aus. Ich kriege die Kurve nicht.“

Reinhard Naumanns und meine Meinung zur Deutschen Einheit waren nicht deckungsgleich. Aber wer es wollte, der konnte seine Sicht der Dinge verstehen, ihn respektieren und ihn als Menschen gern haben.Was mir von diesem Mann blieb, ist mehr als die Erinnerung. Mehr als die Erinnerung an sein spitzbübisches Grinsen, als er mir berichtete, dass es Jugendlichen der Pfarrgemeinde wohl gelungen sei, durch Entfernen des Glockenschwengels das Einheitsläuten in der Nacht zum 3. Oktober zu verhindern.

Was bleibt, ist mehr als die Erinnerung an seine mahnenden und kraftvollen Worte.

Was für mich bleibt, ist die feste Überzeugung, dass Politik sich nicht darauf beschränken darf, Systeme auszuwechseln, den Markt zu öffnen. Politik muss zunächst das soziale Schicksal der Menschen im Blick haben. Politik muss mit den Menschen zunächst das erarbeiten, was sie unter dem ‚gelobten Land‘ verstehen und mit ihnen gemeinsam den Weg dorthin gehen. Politik darf nicht Spielball der Mächtigen sein, denen die Definition des Begriffes ‚gelobtes Land‘ überlassen wird.

Dankbar bin ich, dass ich diesen Mann kennenlernen konnte. Dankbar bin ich für eine Städtepartnerschaft, die für mich mehr wurde und war als der Austausch touristischer Freundlichkeiten.  Die Städtepartnerschaft Schmalkalden und die Menschen dort, unter ihnen Reinhard Naumann und viele andere,  haben für viele Recklinghäuser Deutsche Geschichte hautnah leben lassen.  

Anmerkungen:

Einige Namen in meinem Bericht habe ich geändert, Namen von Personen des öffentlichen Lebens allerdings nicht.

[1] Deutsche Soziale Union ist eine rechtskonservative Kleinpartei in der Bundesrepublik Deutschland. In der Wendezeit 1989/1990 war sie als Teil des Wahlbündnisses Allianz für Deutschland an der letzten DDR-Regierung beteiligt. In den letzten Jahren näherte sich die Partei dem rechtspopulistischen Spektrum an