Opfertagebuch 24.07.2022: You’ll never walk alone?
Olaf Scholz hatte den Satz „You’ll never walk alone“ noch nicht ganz ausgesprochen, da titelte die Welt “ You’ll never walk alone? Schön wär’s ja, Herr Scholz“. Was war geschehen? Da ist sich unser Bundeskanzler seiner Verantwortung für diejenigen bewusst, die unter der Inflation, den steigenden Gaspreisen, dem Ukraine-Krieg und den großen gegenwärtigen Lasten besonders leiden. Er spricht das im Rahmen einer Pressekonferenz an, bei der er eine milliardenschwere Unterstützung des für die Gaslieferungen systemrelevanten Uniper-Konzerns ankündigt. Er zeigt damit, dass es nicht nur um die großen Konzerne geht. Dass er die Probleme der Geringverdiener und Sozialschwachen sieht, dass die Regierung ihnen hilft und, dass diese nicht alleine sind. Ganz nach dem Liverpool-Klassiker: You’ll never walk alone. Eine lobenswerte Aktion, er will ermuntern und den Menschen die Angst nehmen.
Und schon beißt sich die Medienlandschaft an diesem Satz „You’ll never walk alone“ fest. Ein Narrativ soll ins Wanken gebracht werden. Allerdings nicht um dem Realismus das Wort zu reden, dass nämlich ein Regierungschef wohl kaum jedem einzelnen beschwerten Bundesbürger helfen kann. Vielmehr geht es darum die Glaubwürdigkeit von Olaf Scholz zu beschädigen.
Natürlich ist die rhetorische Wahl dieses Teils eines Liedes, das in hunderten Fußballstadien gesungen wurde, zunächst eine gelungene Sache. Das trifft die Emotion. Schafft ein positives Bild. „Der Kanzler an der Seite von mühsam Beladenen auf dem Weg aus der Krise“. Das spricht an und vermittelt ein Gefühl der Solidarität. Ein Bild also, das eine ähnliche Wirkung entfalten kann, wie die Kanzlerrede zur „Zeitenwende“. Und doch ist es anders.
Während die Zeitenwende für viele Wählerinnen und Wähler abstrakt war und wohl auch fernab bleibt, stammt das Bild vom Kanzler, der einen nicht alleine lässt, aus dem Nahbereich. Es sind die Erfahrungen an der Tanksäule, die Ladentheke, der Strom und Gasrechnung. Es sind die Ängste vor dem was wird – ob Krieg, Flüchtlinge oder Corona. Alles das ist leicht prüfbar. Auch wenn Regierungshandeln hier aktiv wird und generell hilft, dann wird die praktische Erfahrung menschliche Ängste und Enttäuschungen hinterlassen. Es wird Menschen geben, die sich als Opfer fühlen. Nicht als Opfer von Putin oder anderen. Nein der Kanzler hat es versprochen. Ein verinnerlichtes Narrativ gerät ins Wanken, schafft virtuelle Opfer und sucht sich einen Sündenbock.
Genau daran arbeitet die „Welt“ mit ihrer beißenden Kritik schon jetzt. Und sie und ähnliche Medien werden in den kommenden Monaten genüsslich nach Belegen fahnden, die das Scholz’sche Versprechen ad absurdum führen sollen. Das Ziel dabei ist nicht die Wohlfahrt der betroffenen Bürger. Vielmehr geht es darum den Kanzler vorzuführen und das in ihn gesetzte Vertrauen zu demontieren.
Was nun? Nichts tun? Gar nichts sagen, nur Daten und Fakten? Keine Sicherheit vermitteln? Keinen Halt bieten? Was Olaf Scholz auch macht, er wird so oder so öffentlich angegangen. Er wird seinen Weg gehen und zu ihm stehen.
Wie ein Kontrast bietet sich eine Veröffentlichung in Spiegel, Focus, Bild u.a. mit dem Titel an “ Siegmar Gabriel erklärt, warum wir alle länger arbeiten müssen.“ Es erscheint ein erschreckendes Narrativ: Wirtschaftsleistung sinkt, Preise steigen, Fachkräfte fehlen. Ohne, dass wir alle anpacken geht es nicht. Während die Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzungen bekämpft wurde, soll der Mangel nun durch bezahlte Mehrarbeit bekämpft werden. Ohne die inhaltliche und politische Stimmigkeit hier diskutieren zu wollen, erkennen wir zwei unterschiedliche Narrative. Während Olaf Scholz später für die Nichterfüllung gegeißelt wird, wird Siegmar Gabriel schon jetzt für die Unzumutbarkeit gebrandmarkt.
Was ist der bessere Weg? Es ist schwer zu sagen. Nur erscheint es mir immer wichtiger, dass wir uns alle in der Politik mit Wohlfahrtsversprechen sehr zurücknehmen sollten. Das schafft zunächst nicht so viele Freunde, verschafft aber später weniger Enttäuschungen und damit weniger Feinde. Einen gemeinsamen Weg zu gehen kann ja auch heißen: „Lasst uns gemeinsam anpacken, jeder an seiner Baustelle und für uns alle, dann ist keiner alleingelassen.“ Dabei kann man die Baustellen bzw. Zumutungen ruhig mal beim Namen nennen und auch kräftig darüber streiten. Das gehört zur Demokratie.