Opfertagebuch 22.07.2022: Warum Deutschland im Krieg der Russen in der Ukraine zum Nebentäter gemacht wird.
Es macht einfach stinksauer. Man schlägt die Zeitung auf, hört das Radio, sieht TV oder blättert im Internet: Überall ist Deutschland der Sündenbock in dem grausamen, von Putin begonnenen Krieg gegen die Ukraine. Wüsste man nicht genau, dass Putin den Angriff im Februar d. J. befohlen hat, dann könnte man meinen, dass Deutschland da irgendwie involviert ist. Es zeigte sich nicht nur in der Ausladung des Bundespräsidenten durch Kiew. Es gipfelte dann vor einigen Tagen in einer Illner-Talkshow im ZDF mit der Feststellung des CSU-Spitzeneuropäers Manfred Weber, dass wenn Russland Kiew besiegen würde, die Deutschen daran schuld seien. Und Weber gibt hier nur den durchaus vorhandenen Mainstream zur deutschen Schuld insbesondere im osteuropäischen Ausland wieder. Befeuert wird diese Sündenbock-Zuschreibung durchaus auch im Inland. So überbieten sich die Opposition und einige Vertreter der Koalitionspartner darin den Sündenbock über den Umweg der Scholz-Schelte auch Deutschland anzuheften.
Aber wie kommt es zu dieser deutschen Sündenbockfunktion? Daran, dass Deutschland im letzten Jahrzehnt nicht genug Hilfe für die Ukraine geleistet hat kann es nicht liegen. Insbesondere die wirtschaftlichen und sozialen Hilfen gingen in die Zig-Milliarden. Militärische Hilfe wurde bis zum russischen Kriegsbeginn fast ausschließlich von den Vereinigten Staaten geleistet. Für Deutschland galt bis zur „Zeitenwenden-Rede“ von Olaf Scholz ohnehin das Zurückhaltungsgebot bei Waffenlieferungen in Krisengebiete. Danach lieferte Deutschland auch militärische Ausrüstung, wenn man mal von der verunglückten Kampagne zur Lieferung der Schutzhelme absieht, nicht mehr und nicht weniger als der Durchschnitt der übrigen NATO-Staaten.
Der Weg zum Sündenbock Deutschland ist zunächst nur zu erklären, wenn man die faktische Opferrolle der Ukraine und deren überwältigende Verteidigungsleistung bedenkt. Eine Opferrolle, die jeden moralischen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung, gar auf eine Ausschaltung des Aggressors hat. Dieser Anspruch auf sofortige und massive Hilfe wurde legitim, lautstark, manchmal auch rhetorisch überhöht vorgetragen und in den Medien platziert. Aber was passiert, wenn der moralische Anspruch nicht eingelöst werden kann? Wenn der Täter weiterhin Täter bleibt, dieser seine Aggressionen brutal vorantreibt und die eigenen Bemühungen trotz der Unterstützung nicht oder noch nicht zu Erfolg führen? So hatte die Ukraine in den ersten Kriegswochen doch bewiesen, dass sie Russland durchaus zurückdrängen kann. Und trotzdem gab es den Mord an tausenden ukrainischen Zivilisten und ein beständiges Vorrücken der Russen in der Ost-Ukraine. Wenn es also trotz eigener, gezeigter Stärken und trotz massiver Unterstützung der USA, der Baltischen Staaten, Tschechiens und Polens keinen Erfolg gibt, dann muss es einen weiteren Grund geben, der nicht beim Opfer selbst liegt.
Zum Sündenbock Deutschland: Dabei hilft zunächst ein Narrativ, das Deutschland über Jahre hinweg aufgebaut und gepflegt hat. Es geht um das Bild von Deutschland, das nach wie vor in moralischer Verantwortung für die schrecklichen Gräueltaten durch Hitler-Deutschland steht und dieses Bild nicht nur verbal sondern auch materiell bedient. Dabei hat gerade dieses Bild durch eine gesinnungsethische Rhetorik und Haltung in den Parteien und den Medien besondere Konturen und Auffälligkeiten erhalten. Wie sonst hätte das unverschämte, beleidigende Gerede ukrainischer Offizieller, wie durch den gegenwärtigen Botschafter Melnik, keinen oder nur geringen Widerspruch erfahren können. Im Gegenteil, politische Gruppierungen und Medien im eigenen Land verschafften dem Narrativ einer überdimensionalen Verantwortung Deutschlands und einer gebotenen Rücksicht bei der Formulierung eigener Interessen, eine besondere Wirkung. Durch wen auch immer. Es galt jeweils nur auf den Startknopf für dieses Narrativ zu drücken um die deutsche Regierung zu triggern und der Öffentlichkeit den Sündenbock Deutschland präsentieren zu können.
Aber auch an einem weiteren Narrativ, das sich gut zur Ableitung einer Sündenbockrolle eignet, haben wir über Jahrzehnte gearbeitet. Es liegt in einem Selbstbewusstsein der ökonomischen Stärke und politischen Stabilität, das wir weitgehend in internationalen Konflikten in Euro und DM ausgezahlt haben. Dieses Bild zeigt Stärke, Dominanz und aber auch Ausnutzbarkeit. Und auch dieses Narrativ lässt sich verbunden mit Schuldgefühlen, Vergleichen und Erwartungen triggern. Wenn Deutschland diesem Narrativ nicht entspricht, dann gerät es unweigerlich in die Sündenbockrolle. Oder um mit dem CSU-Politiker Weber zu sprechen: Wenn Russland Kiew besiegt, dann wird Deutschland gleichsam zum Sündenbock oder anders ausgedrückt zum Nebentäter.
Alle diese an derartigen Narrativen orientierten Schuldzuweisungen, haben nur das Ziel, die Interessen des Sündenbocks zu delegitimieren und die eigenen Interessen zu überhöhen. Wer in der Politik und in der Öffentlichkeit Verantwortung trägt, der muss um diese Mechanismen wissen. Er muss die jeweiligen Interessenlagen verantwortungsethisch abwägen. Dabei will ich nicht verschweigen, dass ich mich hier durch den Bundeskanzler, der sich nicht durch dienerndes Gehabe und martialisches Hurra-Geschrei hervortut, gut aufgehoben fühle.
Wichtig wäre es allerdings, wenn man sich in Politik und Öffentlichkeit mal um die Revision der vorhandenen Narrative bemühen würde. Dazu gehören neue Akzente und Zeitenwenden aber auch um das „Ent-täuschen“ vertrauter Erfahrungen bei unseren internationalen Gesprächspartnern. Verantwortungsethische Politik muss die Interessenlagen in der internationalen Politik besonders berücksichtigen. Das geht aber nur, wenn der Sockel der eigenen Interessenlage ein festes Fundament ist.