Erfolgreiche Integration und Überwindung der „Projekteritis“

Mehreren Millionen Menschen konnten zivilgesellschaftliche Organisationen in den vergangenen Jahrzehnten mithelfen  anzukommen. Ankommen: das bedeutet mehr, als ein Dach über dem Kopf zu finden und satt zu werden. Es bedeutet, die Grundlagen und Regeln einer bislang fremden Gesellschaft zu verstehen und zu beherrschen. Es bedeutet, sich im Deutschen und unter Deutschen gewandt bewegen zu lernen. Freunde zu finden, Kolle-gen. Fast niemand schafft das ohne Anleitung.
Die Erfahrung dieser zivilgesellschaftlichen Organisationen lehrt: Es genügt nicht, Neuankömmlingen Zettel in die Hand zu drücken und sie beim Antragstellen zu beraten. Sie wollen gefördert und gefordert werden. Das heißt: sie müssen begleitet werden. Auf ihrem Weg in die für sie fremde Gesellschaft, durch Schulen, Hochschulen und Ausbildungswege. Das können lange Wege sein.
Willkommenskultur leben: das heißt nicht, freundlich Guten Tag zu sagen. Das heißt, Menschen, die zu uns kommen, an die Hand zu nehmen und ihnen Hilfestellung zu geben, wenn es mal wieder gilt, eine der zahlreichen Klippen zu überspringen oder zu umrunden, mit denen die Aufstiegswege in unserer Gesellschaft vollgestellt sind. Willkommenskultur zu leben ist eine Daueraufgabe. Sie zu lösen verlangt Kontinuität, einen langen Atem und Nachhaltigkeit. Willkommenskultur spielt sich immer zwischen Menschen ab. Das zeigt sich auch an dem bewundernswerten ehrenamtlichen Engagement während des starken Zuzugs in den zurückliegenden Monaten. Dieses gilt es zu unterstützen, zu pflegen und gesellschaftlich zu achten.
Daraus folgt unmittelbar eine zweite Forderung: Erfolgreiche Integrationsarbeit verträgt sich nicht mit Projekteritis.Was ist Projekteritis? Die Abneigung, nichtstaatliche Stellen dauerhaft das tun zu lassen, was sie – aufgrund ihrer Erfahrung und der praktischen Kompetenz ihrer Mitarbeiter – gut tun können. Eine Stiftung, ein Verein, eine NGO tut sich nun mal leichter im Umgang mit den schillernden Wechselfällen des Lebens als eine Behörde. Das gilt in ganz besonderem Maße auf dem Feld der Integrationsarbeit. Die zarte Pflanze Vertrauen gedeiht besser zwischen Flüchtling und NGO-Mitarbeiter als zwischen Flüchtling und Beamtem. Das spricht nicht gegen Beamte. Beamte sind qua Amt und Gesetz Hoheitsträger.
Projekteritis zeigt sich im Zwang, für die Lösung im Grunde immer gleicher Probleme ständig neue Programme zu erfinden. Mit der Folge, dass erfahrene Leute entlassen, eingespielte Teams aufgelöst, gewachsene Beziehungen zwischen Klienten und Beratern zerschlagen: dass Vertrauen verspielt wird.

Die Projekteritis ist im Gefolge eines neoliberalen Zeitgeistes über uns gekommen. Neoliberale wittern Verschwendung überall dort, wo der Staat oder von ihm Beauftragte dauerhaft aktiv sind. Sie sehen das Heil im Wettbewerb; grundsätzlich, immer – und sei es im Wettbewerb nicht profitorientierter, sozial engagierter Vereine und Verbände um staatliche Aufträge und Zuschüsse. Mit der Folge, dass diese Vereine und Verbände einen Großteil ihrer personellen und zeitlichen Ressourcen, ihres Erfindungsgeistes, darauf verschwenden müssen, immer neue Programme zu ersinnen und wortreich zu beschreiben. Fehlende Vernetzung, fehlende Bündelung von Kompetenz und Projekteritis vertragen sich nicht mit den Erfordernissen einer modernen und lösungsorientierten Migrations- und Integrationspolitik. Hier ist ein ganzheitlicher Ansatz nötig, der Ressourcen entfaltet, alle Probleme und Konfliktfelder im Blick hat und gesellschaftlichen Kräften zur Entfaltung verhilft und sie bündelt. Neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Staat und NGOs sind nötig. Es muss keine instituionelle Förderung sein. Verbindlichere und nachhaltigere Formen als die Projektförderung – im Rahmen von aufgabengebundenen Kooperationsvereinbarungen – sind allerdings dringend nötig.

JoWe