Jüdischer Freundeskreis und Erinnerungskultur

Jüdischer Freundeskreis und Erinnerungskultur
(Auf dem Foto: v.r.n.l. Dr. Mark Gutkin, Judith Neuwald-Tasbach, Isaac Tourgmann, Prof.Dr. Albrecht Geck, Jochen Welt)

 

Mit einer Auftaktveranstaltung zum Thema „Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert“ hat sich jetzt die „Initiativgruppe Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde“ zu Wort gemeldet. Diese fand in gemeinsamer Vorbereitung in den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in Recklinghausen statt.

Ausgangspunkt für diese Veranstaltung war die großartige Resonanz bei der Spendenaktion für die Herstellung der Thora-Rolle. In dieser freundschaftlichen Atmosphäre regte die Jüdische Kultusgemeinde die Gründung eines „Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen“ an. Ein solcher Freundeskreis ist in Städten wie Bochum, Unna, Frankfurt, Chemnitz und anderswo schon längst selbstverständlich. Durch ihn sollen sich Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Weltanschauungen, die sich der jüdischen Kultusgemeinde unserer Region verbunden fühlen, persönlich begegnen, einander austauschen, Feste feiern und thematisch relevante Veranstaltungen, z.B. zum Thema der „Erinnerungskultur“ in Deutschland, durchführen. Deshalb hatte die jüdische Kultusgemeinde nun zwei Referenten eingeladen, eine jüdische Referentin und einen nicht-jüdischen Referenten eingeladen.

In einem ersten Impulsreferat beschrieb Prof. Dr. Albrecht Geck, Leiter des Instituts für Kirchliche Zeitgeschichte des Kirchenkreises Recklinghausen (IKZG-RE), als Ziel von jüdisch-nicht-jüdischer Erinnerungskultur in Deutschland, dass „thematisiert wird, was geschehen ist, aber nie hätte geschehen dürfen, damit es nie wieder geschieht“. Geck charakterisierte „Erinnerungskultur als ,Demokratiewissenschaft‘“ und schilderte ihre Entwicklung seit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985. Diese Rede habe auch in Recklinghausen zu einem Boom der systematischen Aufarbeitung der Verbrechen während des sog. Dritten Reichs geführt. Am Beispiel von Buch und Stadtplan „Wo du gehst und stehst“ (Recklinghausen 2002/09) schilderte Geck das vorbildliche „Recklinghäuser Konzept“, das die Geschichte mit konkreten Personen und konkreten Orten in Verbindung bringe. Anhand einer Stadtkarte könne man heute die „Stätten der Herrschaft, der Verfolgung und des Widerstands“ mit Schülerinnen und Schülern und mit Erwachsenen erkunden. So werde Geschichte kritisch ins Bewusstsein gehoben. Geck machte darauf aufmerksam, dass Erinnerung aus jüdischer und nicht-jüdischer Sicht jeweils etwas anderes bedeute. Beide müssten allerdings zusammen finden in der gemeinsamen Arbeit an einer Demokratie, in der in Anerkennung der Menschenrechte Pluralität verantwortlich gelebt werde. In jedem Fall müsse auch zukünftig deutlich sein, dass die Erinnerung an die Shoa und die Anerkennung Israels zu den unverhandelbaren Bestandteilen staatsbürgerlicher Identität in Deutschland gehörten. Geck schloss seinen Vortrag mit einer nachdenklich stimmenden Anekdote: „Als evangelischer Theologe werde ich oft gefragt, was denn Juden und Christen gemeinsam haben. Und oft erstaunen mich die überraschten Gesichter, in die ich blicke, wenn ich antworte: ,Die Menschenrechte!‘“

Auf die aktuellen Gefährdungen für unser Zusammenleben und die Entwicklung der Erinnerungskultur ging Frau Judith Neuwald-Tasbach, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop und Tochter von Holocaust-Überlebenden in ihrem persönlichen und emotional sehr bewegenden Vortrag ein.  Sie berichtete sehr eindrücklich von der antisemitischen Demonstration am 12. Mai 2021 vor der Synagoge in Gelsenkirchen. Eine Hassveranstaltung, nicht in Ostdeutschland oder weit weg. Vielmehr in der Nachbarschaft – in Gelsenkirchen.

Judith Neuwald-Tasbach: „Solche Taten regen und wühlen mich auf.“ Die hasserfüllten Gesichter, die sie in ihrer Heimatstadt gesehen hat, gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie sieht sie ständig vor sich, ebenso die geballten Fäuste. Auch Kinder seien bei dem Zug dabei gewesen, sagt sie entsetzt. Rund 180 Demonstranten waren vom Bahnhofsvorplatz in Richtung Synagoge gezogen, aufgehalten wurden sie von Polizeibeamten. Das Geschrei von Hass und Beschimpfungen wie „Scheiß Juden“ ginge ihr nicht mehr aus dem Kopf. Ähnlich habe es ihr Vater in der Nazi-Zeit erfahren müssen.

Es sei gut, wenn sich zu derartigen Vorfällen die staatlichen Autoritäten klar und deutlich positionieren, so wie es im Mai des letzten Jahres Stadt, Land, Bund und viele gesellschaftliche Gruppen getan hätten. Und doch fehle etwas. Erinnerungskultur und Bekämpfung des Antisemitismus dürfe nicht nur eine Aufgabe für die Offiziellen sein. Erinnerungskultur müsse mehr in die Breite gehen, in die Schulen, in die Nachbarschaften und auch in die Familien. Dabei müsse vor allen Dingen gegen das Verdrängen und Wegsehen gearbeitet werden.

Zum auf den Weg befindlichen „Freundeskreis der Jüdischen Kultusgemeinde“ kamen beide Referenten zu dem gleichen Ergebnis. In all den aufgeworfenen Fragen kann er wertvolle Arbeit leisten. Es gelte nicht etwas für Juden zu tun, vielmehr mit ihnen etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen. Albrecht Geck: Von dem Freundeskreis, „verspreche ich mir persönliche Begegnungen, in denen sensible Fragen … offen besprochen werden, weil wir alleine im Gespräch unter Nicht-Juden damit vielleicht nicht weiterkommen.“ Am 19.10.2022 hat die „Initiativgruppe Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde“ zur Gründungsversammlung eingeladen.