Opfertagebuch 01.09.2022: Wie das leidvolle Weltkriegsopfer Polen zum strategischen Opfer gemacht wird.

Opfertagebuch 01.09.2022: Wie das leidvolle Weltkriegsopfer Polen zum strategischen Opfer gemacht wird.
Bild von czu_czu_PL auf Pixabay

 

Die gegenwärtige polnische Regierungsmehrheit  beziffert,  83 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs,  die Höhe der nun von Deutschland zu fordernden Reparationen auf 1,3 Billionen Euro. Diese gigantische Summe, welche durch ein aktuelles Gutachten belegt wird,  trägt der starke Mann der polnischen Politik, Jaroslaw Kaczynski,  Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, selbst vor. Dazu führt er aus: „Die Deutschen sind über Polen hergefallen und haben uns einen unglaublichen Schaden zugefügt, die Besatzung war besonders grausam.“  Wer will Herrn Kaczynski da widersprechen. 

Die Forderung von Reparationen aus Polen allerdings schwelt schon seit einigen Jahren. Bislang dominierte die moralische Frage die Unwissenheit über die Höhe der in Rede stehenden Summen. Lange hatten sich die Nationalkonservativen in Polen in konsequenter Ungewissheit bewegt. Doch nun, am 1.September, dem 83. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, präsentiert Kaczynski und eine Parlamentskommission in der historischen Kulisse des Warschauer Königsschlosses, dem Symbol für die einst fast total zerstörte Hauptstadt, den Kommissionsbericht und die Rechnung: 1,3 Billionen Euro. Eine Summe, so der PiS-Chef, die Deutschlands Wirtschaft über Jahrzehnte wohl stemmen könne.

Jenseits der Frage ob der durch Hitler-Deutschland verursachte Schaden, wie die nicht mehr erbrachten Einkommen der Getöteten (919 Mrd. Euro) oder der materielle Schaden an Bauwerken, Kunst und Kultur (174 Mrd. Euro), jemals nachfühlbar und nachvollziehbar ermittelt werden kann, steht die moralische Schuld und damit auch eine moralische Verantwortung Deutschlands fest. Doch was moralisch fest steht, das ist juristisch oft höchst umstritten. So stehen der polnischen Rechtsauffassung das Potsdamer Abkommen von 1945, der Verzicht Polens auf Reparationen von 1953 und das Zwei-Plus-Vier-Abkommen über die außenpolitischen Folgen von 1990 entgegen. 

Wer sich in einer derartigen moralisch-juristischen Gemengelage bewegt, der sollte doch, wenn es ihm darum geht Wiedergutmachung spürbar und sichtbar zu machen, nach gemeinsamen Lösungen suchen. Einer Lösung etwa, wie sie der Bevollmächtigte der Bundesregierung für die Beziehungen zu Polen, Dietmar Nietan, vorgeschlagen hat. Er wollte eine Stiftdung  gründen, die kriegserfahrenen, kranken und sich finanziell in schwierigen Situationen  befindenden Menschen helfen soll. Über die Modultäten und Summen könne ja verhandelt werden. Allerdings ist seit Jahren sichtbar, dass die polnische Regierungsseite daran gar nicht interessiert ist.

Vielmehr ist  festzustellen, dass im jetzt anstehenden Wahlkampf vor den polnischen Parlamentswahlen die deutsche Frage eine besondere Rolle spielt. Kaczynski spielt auch noch die nächste Opferkarte – die Benachteiligung gegenüber anderen Ländern, die längst eine Entschädigung bekommen hätten – Polen aber nicht. „Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, weil irgendjemand glaubt, dass Polen eine andere, niedrigere Kategorie sei als andere Länder.“  Und bei dieser Täter – Opfer- Zuschreibung spielt Deutschland  dann immer eine ganz entscheidende Rolle. Es geht bis hin zu der im Vergleich vorhandenen Banalität der Zuschreibung von deutschen Tätereigenschaften bei der Produktion von Fake-News zur Einleitung von Gift in die Oder. Auf die ständige polnische Opfereigenschaft im Blick auf die deutsche Dominanz bei Europäischen Vorschriften, Vorgängen und Klagen sei nur am Rande verwiesen.

Wenn man weiß, dass rund 50 % der polnischen Bevölkerung nach vorliegenden Umfragen die Auffassung teilen, dass Deutschland Reparationen zu leisten haben, dann weiß man auch angesichts der herannahenden polnischen Parlamentswahlen: Mit einem Täter Deutschland und dem strategisch überhöhten Opfer Polen lassen sich Wahlen gewinnen.  Ein gefährlicher Weg, den die PiS hier seit Jahren einschlägt.  Ihr geht es darum durch die Zementierung des außenpolitischen Feindbildes Deutschland die innenpolitischen Wahlen zu gewinnen. Wenn das gelingen sollte, dann muss man sich große Sorgen machen um den Status einer aufgeklärten Demokratie in unserem Nachbarland, das vom überwältigenden Teil der deutschen Bevölkerung als guter Nachbar geschätzt wird. 

Die große Mehrheit unserer Bevölkerung weiß um die moralische Verantwortung im Blick auf unsere östlichen Nachbarn und beachtet deren geschichtlichen Opferstatus. Eine machtpolitische Instrumentalisierung dieses Status aus kurzfristigen Interessen könnte sich  allerdings zu einer Gefahr für unsere bilateralen Beziehungen und für unser europäisches Miteinander entwickeln. Opfer von Krieg, Vertreibung, Not und Katastrophen werden auch im internationalen politischen Konzert hoch geachtet. Inszenierte Opfereigenschaften oder Opferüberhöhungen zerstören  dagegen den gegenseitigen Respekt und machen ein politisches Miteinander nur schwer möglich.