Opfertagebuch 25.04.2021: Impfdrängler pöbeln und bekommen recht.
„Der Mangel an Corona-Impfstoffen hat zu wilden Szenen im Ruhrgebiet geführt. Aus Angst vor Randale wurden 40 dreiste Vordrängler geimpft.“ Das schreibt Christian Keiter heute auf dem Portal Ruhr24.de. Man kann diesen Vorgang als Flegelei, Egoismus oder Rücksichtslosigkeit abtun und darauf verweisen, dass es zu derartigen Phänomenen der Vorteilsbeanspruchung ja regelmäßig kommt. Oder, dass gerade die Pandemie das gesellschaftliche Leben erheblich rauer gemacht hat. Allerdings macht es mehr Sinn bei diesem Phänomen doch einmal genauer hinzusehen.
Da gibt es Menschen, die vorgeben, sie hätten im Radio gehört, dass aufgrund übrig gebliebener Dosen für den Rest des Tages ohne Termin und ohne Blick auf die Priorisierungsstufen geimpft würde. Eine Sprecherin des Lokalradios erklärte allerdings, dass eine solche Nachricht überhaupt nicht über das Programm verbreitet worden sei. Hier folgen offensichtlich Menschen einem heilenden Narrativ in den schwierigen und impfstoffknappen Corona-Zeiten. Ob nun wunschorientierte Wahrnehmung oder missverständliche Nachrichtenlage. Entscheidend ist, dass zur Balance der jeweiligen Komfortzone der Impfpöbler wohl offensichtlich eine umgehende Impfung gehört. Diesen Wunsch zur Komfortzonenbalance teilen sicher gegenwärtig viele Mitbürger. Nur pöbeln, Gott sei Dank, nicht alle gleich herum.
Die Impfungen wurden durch den Gesundheitsminister zur Jahreswende 2020/21 vollmundig angekündigt. So wurden Erwartungshaltungen geweckt, die nicht so schnell befriedigt werden können. Ein fatales Erwartungsmanagement, das derartige Entwicklungen herausfordert. Die von R. Girard für den mimetischen Zyklus identifizierte Abfolge von Nachahmung – hier geweckter Erwartungshaltung- und Begierde, setzt sich so in Gang. Als nächste Impulse dieses Zyklus entwickeln sich Neid und Konkurrenz. Und in dieser Phase kommt es zur Entstehung eines virtuellen Opferschicksals. Die Betroffenen fühlen sich als Opfer eines versagenden Systems oder ungerechter Behandlung. Virtuell ist dieses Opferschicksal deshalb, weil keine faktische Beeinträchtigung oder Benachteiligung ein so entstandenes Opfergefühl erklären kann. Sich als Opfer darzustellen vermittelt allerdings gesellschaftlichen Status, Respekt und verlangt Mitleid und Rücksichtnahme.
Wenn wohl, wie im vorliegenden Fall, diesem Opfergefühl nicht ausreichend Rechnung getragen wird, dann kann es zu wehrhaften Reaktionen und Aggressionen kommen, die mit der geschilderten Opfereigenschaft gerechtfertigt wird. Die Verantwortlichen im Impfzentrum wollten dieser Opfereigenschaft der Betroffenen zunächst wohl nicht entsprechen und lehnten deren Impfwunsch ab. Das steigerte die Opfergefühle offensichtlich nur noch. Das gleiche Gefühl bei mehreren Betroffenen sowie die erfahrene Opfersolidarität, vermittelte dann erhebliche Kräfte. Es entstand ein Opferblock, dem die Entscheider des Impfzentrums nicht mehr standhalten konnten.
Hier zeigt sich wieder mal, dass es sich offensichtlich lohnt als virtuelles Opfer aufzutreten, die Bataillone zu sammeln und von der staatlichen Verwaltung Verständnis und Alimentation zu verlangen. Derartige Erfahrungen machen Menschen in unserer Gesellschaft häufig. Sie lernen aus diesen Erfahrungen und nutzen die Werkzeuge oft unwidersprochen. Ein Vorgang der zur Verfestigung einer viktimisierten Gesellschaft beiträgt. Ein Vorgang dazu, der die eigentlichen Opfer mehr und mehr in die zweite Reihe verdrängt.