Opferzeiten – Berichte aus einer viktimisierten Gesellschaft
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich viele Menschen, ausgesprochen oder unausgesprochen, als Opfer fühlen. Könnte man diese gefühlten Opfer befragen, dann würden sie sich nicht unbedingt als ein Opfer outen oder sich gar so bezeichnen wollen. Ihr gesellschaftliches Verhalten offenbart sich allerdings vielfach als Äußerung eines imaginären, bloß eingebildeten Opferempfindens.
Bei wiederum anderen Menschen ist ein erlebtes Schicksal, sind die erlittenen Traumatisierungen offensichtlich. So gibt es ja leicht erkennbare Opfer, z.B. einer Krankheit, einer Seuche, eines Unfalls, einer Verfolgung, eines Krieges. Hier ist unsere Einsicht in das Opferschicksal deutlich und die Täterfrage in der Regel schnell geklärt. Dann gibt es aber auch Situationen in denen das Beziehungsgeflecht von Opfern und Tätern nicht so leicht zu entschlüsseln ist. So beim Bullying oder Mobbing – ob am Arbeitsplatz oder in der Schule. (Peter Teuschel, H.W. Heuschen, Bullying, 2013)
Allerdings finden wir auch Menschen, die sich beeinträchtigt, gar als Opfer fühlen, ohne dass – wie am Beispiel eines Verbrechens oder eines Unfalls – eine Opfer-Täter-Beziehung eindeutig erkennbar wird. Wenn man sich nur mal die Corona-Demonstrationen in Berlin im August 2020 anschaut, dann weisen die Protestschilder auf eine Unzahl von Opferschicksalen hin. Da ist man Opfer des Maskenterrors der Bundesregierung, des Meinungsterrors von Dunja Halali und der gesamten Lügenpresse, des Diktats des Meinungsmonopols von Virologen um Christian Drosten oder man fühlt sich durch das vermeintliche Impf-Macht-Monopol von Bill Gates in Gefahr.
So kann man, wie am aufgezeigten Beispiel, entweder erfolgreich nach möglichen Beeinträchtigungen fahnden oder man kommt zu der Feststellung, dass latente Ursachen, verfestigte Selbsteinschätzungen, ein unrealistischer Blick auf die Welt oder geweckte Erwartungshaltungen offensichtlich das Gefühl verursacht haben, beeinträchtigt zu werden oder gar schon ein Opfer zu sein.
In vielen Dingen des täglichen Lebens fühlen sich solche Menschen unterschiedlichen gesellschaftlichen Prozessen ausgeliefert. Sie empfinden sich als Opfer dieser Prozesse. Verursacht z.B. durch vermeintlich falsches Regierungsverhalten, egal ob in Deutschland oder anderswo. Am konkreten Beispiel der Corona-Demonstrationen zeigen die Teilnehmer unterschiedliche Gefühle der Beeinträchtigung oder Gefährdung. Es ist auf den ersten Blick schwer zu verstehen, dass sich Maskenverweigerer mit Reichsbürgern und Rechtsradikalen gemein machen. Auf den zweiten Blick wird klar: Sie eint der Blick auf die von ihnen ausgewiesenen Täter. Sie fühlen sich als Opfer von Regierungen, Parteien, Medien und anderen Agenturen. Wenn man mit wachem Auge das Tagesgeschehen verfolgt, dann findet man sie zuhauf, diese unterschiedlichen Opferschicksale. Die nachfolgenden Artikel greifen einige in Form eines Opfertagebuchs heraus.
Dabei ist dieses beschriebene Opfergefühl nicht nur ein Phänomen unserer gegenwärtigen Zeit. Allein ein Blick in die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, den wir im nächsten Kapitel wagen wollen, zeigt uns, wie mythenüberladen ganze Epochen sein können und wie Opfermythen eine Dauerbelastung für politisches Bewusstsein und Handeln bedeuten können. Mythen, die das gesellschaftliche Leben und die nationale wie internationale Politik maßgeblich beeinflusst haben.