Wir müssen wieder mehr Heimat wagen!

Warum sind wir oft so ratlos, wenn wir nach den Gründen des zunehmenden Demokratieverdrusses suchen? Wir scheinen oft machtlos zu sein gegen die Zunahme von Rechtsradikalität und Sehnsucht nach autoritären Führern. Dabei hätten wir nur früher auf die Zeichen der Zeit achten sollen. Globalisierung, der Austausch von Gütern, Finanzen, aber auch Ideen und kulturellen Orientierungen, die zunehmende Aufhebung von Grenzen haben nicht nur eine Schokoladenseite. Was bei Kosmopoliten und kulturellen wie ökonomischen Grenzgängern wie eine willkommene Erweiterung des eigenen Lebensbereichs wirkt, das erzeugt bei den mehr am heimatlichen Gefilde orientierten Menschen Sorge und zunehmende Angst.
So kommen seit einigen Jahrzehnten Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen zu uns. Kulturen, die den meisten Bundesbürgern bisher nicht einmal als geschönte Urlaubserfahrungen bekannt sind. Es häufen sich neue Techniken und Arbeitsweisen in einer nie gekannten Geschwindigkeit, ebenso wie die Unterordnung des Lebensumfeldes unter dem Diktat des Konsums und ökonomischer Rentabilität. Da gibt es kein Innehalten. „Money makes the world go round“ kennen viele als Lied von Liza Minnelli, aber fast alle haben nicht gemerkt, dass dies zu einem Lebensprinzip geworden ist. Ein Lebensprinzip, das uns in seiner globalen Anwendung den Verlust von Heimat, Nähe, Sicherheit, Orientierung und emotionaler Wärme gebracht hat. Wundert sich da jemand, dass viele Wähler auf der politischen Suche nach einer Heimat sind? Zu abstrakt? Zu theoretisch?
Beginnen wir mit der kleinen Kneipe von nebenan. Wo gibt es sie noch? Nun gut, ein paar Szenenkneipen. Den Ort, an dem man sich zum Plausch und Bier traf, gibt es nicht mehr. Natürlich, weil sich der Betrieb wegen geschwundener Nachfrage nicht mehr rechnete. Andere Konsumbedürfnisse haben ihn verdrängt. Aber warum ist uns denn über Jahre nicht aufgefallen, dass dadurch ein kommunikatives Defizit entstanden ist, das für ein gesellschaftliches Miteinander nicht förderlich ist. So kann sich der Wunsch einer Nachbarschaftsgruppe nach einem Treffpunkt zum Hindernislauf entwickeln. Orte der Begegnung und damit der Demokratie wurden nicht aus-, sondern wegen der klammen Finanzen zurückgebaut.
Da erfahren Mutter oder Großmutter beim täglichen Kontakt im Kindergarten oder der Grundschule, dass man sich dort mit anderen Eltern wegen fehlender oder nicht vorhandener Sprachkenntnisse gar nicht unterhalten kann. Es bleibt oft bei hilflosen Gesten und einem rudimentären Wortaustausch. Findet so noch Austausch an Gedanken und Meinungen statt? Können so Konflikte angesprochen oder gar gelöst werden? Der Ruf nach Begrenzung der Zuwanderung in dem Zusammenhang ist wohlfeil. Es geht schon längst nicht mehr um die Geflüchteten, die neu kommen. Es geht schon lange um diejenigen, die seit Jahrzehnten mit uns in einer Stadt wohnen, aber nicht sprachfähig sind. So geht Heimat verloren. Hier wurde über Jahrzehnte weggesehen. Integration und die Fähigkeit zum demokratischen Miteinander werden nicht nur durch schöne Worte und Förderprogramme erreicht. Vielmehr gehört dazu auch die Forderung an die Beteiligten, sich mitteilungs- und beteiligungsfähig zu machen.
Heimat geht auch verloren, wenn die sonst rüstige Rentnerin sich einen Termin bei ihrem normalen Hausarzt besorgen muss. Der Versuch wird zu einem Gang durch die digitale Warteschleife und zur Entpersönlichung. Es gilt das Prinzip ökonomischer Effizienz auch in dem für uns alle so zentralen Punkt, der Gesundheit. Der Mensch wird auf die Wartebank des Cyberspace gesetzt und behandelt wird in der Regel das erfragte Geburtsdatum. Heimat, das fühlt sich an wie „sicher sein“, gesehen und wertgeschätzt werden. Auf diesem Weg befinden wir uns, nicht nur im Gesundheitssektor, seit Jahren nicht mehr. Die gleichen Wartebänke der Entmenschlichung gibt es bei Behörden, Banken, Versicherungen und auch anderen Organisationen, die sich sonst so viel auf Kundenorientierung einbilden.
Wer an dem Ort, an dem er lebt, keine Orientierung mehr findet oder sich in dem Umfeld nicht mehr wohlfühlt, der verliert allmählich seine Heimat. Schauen wir auf die oft seelenlosen Innenstädte mit den vielen Leerständen, für die ja vermeintlich keiner, wegen des sich verändernden Kaufverhaltens, etwas kann. Es gibt sie aber und auch die dem Verfall überlassenen alten stadtbildprägenden Bürgerhäuser, sowie schmuddeligen Ecken, mit Graffiti-beschmierten Wänden. Unsere Toleranz geht über den Schmutz und die vermeintliche Freiheit der Kunst hinweg und hinterlässt Orte, die niemals Heimat sein werden. Durch die Verantwortlichen wurde über Jahrzehnte hinweg bei dieser Entwicklung zugesehen. Architektur, Plätze, Wege, Winkel, Gassen, prägende Gebäude, Orte der Begegnung fanden nur selten die notwendige Aufmerksamkeit. Die Ursache ist für die Politik klar: die klamme Finanzausstattung der Gemeinden. Die fehlende Sensibilität und die nicht gesehene Aufgabe der Politik, Heimat zu sichern und zu schaffen, spielen offensichtlich keine Rolle.
Heimat, das ist auch der Ort, von dem aus in die Zukunft gestartet wird. Aus dem sicheren Umfeld und dem Kreis der zugehörigen Gemeinde heraus. Hier geht es um Dinge die gemeinsam gestaltet und erarbeitet werden und auf die man letztlich auch stolz sein kann. So kann es für alle wichtig sein, dazuzugehören. Der ehrliche Blick auf ein derartiges Heimatgefühl zeigt, dass davon in den zurückliegenden Jahren zu wenig initiiert worden ist. Wir waren mit dem Rückblick, dem Klagen und Problemlösen beschäftigt. Nicht mit neuen Ideen, die die Menschen mitnehmen. Ausnahmen gibt es. Und so wundert es gar nicht, dass bei kommunalen Bürgermeisterwahlen gerade diejenigen überzeugende Ergebnisse erzielt haben, die mit ihren Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam für ein zukunftsfähiges Gemeinwesen gearbeitet haben.
Kurzum: Insbesondere unsere fehlende Sensibilität für den Verlust von Heimat hat zu der jetzt spürbaren Erosion von Demokratie und dem Erstarken rechtsradikaler Kräfte geführt. Diese Kräfte geben einen Alleinvertetungsanspruch für das Gefühl von Heimat vor. Eine krasse Fehleinschätzung. Eine Kurskorrektur ist möglich. Sie wird nicht in der großen Politik stattfinden. Da, wo man meint, mit Grenzschließungen und Verschärfungen bei der Zuwanderung der AfD das Wasser abgraben zu können. Die Kurskorrektur wird gelingen, wenn wir den Menschen wieder mehr Heimat bieten können. Eine Heimat, die Orientierung, Gemeinschaft, Identifikation, Wertschätzung und Respekt vermittelt. Und das kann am ehesten in den Gemeinden gelingen.