Was wir von der Aussiedlerpolitik lernen können

von Thorsten Klute und Jochen Welt

Lange Zeit galt Deutschland als einwanderungs- und integrationspolitischer Nachzügler. Auch das Staatsangehörigkeitsrecht musste sich den Vorwurf gefallen lassen, ethnonational und ausgrenzend zu sein. Heute können wir feststellen: All das ist passé! International vergleichende Studien stellen sogar übereinstimmend fest, dass Deutschland bei der Integration seiner Einwanderer weiter als andere Länder ist. Der Abstand zur alteingesessenen Bevölkerung bei Bildung, Arbeit und Einkommen ist geringer, und auch die Einbürgerung ist keine unüberwindbare Hürde mehr. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration schlussfolgert entsprechend, Deutschland habe, „ohne groß darüber zu sprechen, ein fortschrittliches migrationspolitisches Instrumentarium (für Drittstaatsangehörige) entwickelt, das mit dem allgemein als vorbildlich eingestuften kanadischen Einwanderungsregime ohne weiteres Schritt halten kann“.

Gibt es eine Einwanderergruppe, die exemplarisch für Integrationserfolge steht und von der man für die heute anstehende Herausforderung der Eingliederung von Flüchtlingen lernen kann? Ja, die gibt es – an sie wird nur viel zu selten erinnert, auch weil sie sich nahezu geräuschlos in die Gesellschaft einfügte. Die Rede ist von den Aussiedlern und Spätaussiedlern. Seit dem Beginn ihrer Aufnahme im Jahr 1950 sind 4,5 Millionen – einschließlich der Familienangehörigen – nach Deutschland eingewandert, allein seit 1990 rund 2,5 Millionen. Laut NRW-Teilhabe- und -Integrationsbericht liegt ihre Erwerbstätigenquote mit 76,5 Prozent sogar über jener der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Auch die berufliche Qualifikation ist beeindruckend: 74,5 Prozent haben eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschul- oder Meisterabschluss.

Wie sind solche Resultate möglich? Was ist das Geheimnis dieser Erfolgsgeschichte? Dass die Aussiedler Deutsch gesprochen hätten, taugt als Erklärung jedenfalls nicht. Tatsächlich war Russisch spätestens von den neunziger Jahren an die Muttersprache der meisten, gerade auch der Jüngeren. Auch kamen viele Jugendliche eher unfreiwillig nach Deutschland, wurden gegen den eigenen Willen von ihren Eltern mitgenommen, in ein Land, das ihnen kaum als Heimat erschien, und hatten somit zunächst erschwerte Voraussetzungen für den Start.

Zwar beruhte die Aufnahmebereitschaft Deutschlands auf der Annahme gemeinsamer kultureller Wurzeln, doch waren diese gerade bei Jugendlichen oft kaum noch vorhanden. Gleichwohl war genau diese Annahme die Basis dafür, die Aussiedler von Beginn an und ohne Einschränkung als „zugehörig“ zu betrachten und sie in einmaliger Art und Weise bei Spracherwerb, Qualifizierung und sozialer Integration zu fördern. Es gab dazu auch unmissverständliche gesetzliche Vorgaben. In Paragraph 7 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge heißt es: „Spätaussiedlern ist die Eingliederung in das berufliche, kulturelle und soziale Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu erleichtern. Durch die Spätaussiedlung bedingte Nachteile sind zu mildern.“

Die Eingliederung der Aussiedler und Spätaussiedler kostete damals Milliarden DM. Aber es war gut angelegtes Geld. In Form von Steuern und Abgaben ist seitdem ein Vielfaches davon wieder zurückgeflossen. Es gab staatliche Hilfen bei der Unterbringung in Übergangswohnheimen, bei der Wohnraumversorgung und der Erstausstattung der Wohnungen, es gab Sprach- und schulische Fördermaßnahmen, passgenaue Hilfen bei der beruflichen Eingliederung, Kredite zur Förderung einer selbständigen Erwerbstätigkeit und die Einbeziehung in die Sozialversicherung.

Ein Programm ragt aus den vielen Hilfen heraus: der bundesfinanzierte Garantiefonds. Mit ihm wurden junge Aussiedler bis zum vollendeten 27. Lebensjahr gefördert, aber auch jüdische Kontingentflüchtlinge und Asylberechtigte. Angeboten wurden Intensivsprachkurse, Nachhilfeunterricht, Umschulungen, Fortbildungen und zahlreiche berufliche Integrationsmaßnahmen. Für den Garantiefonds standen allein von 1990 bis 1992 1,5 Milliarden DM zur Verfügung. Für die jungen Menschen öffnete er das Tor in unsere Gesellschaft. Sie haben es ihr durch Fleiß und Leistungsbereitschaft gedankt.

Einen umfassenden integrationspolitischen Ansatz wie damals für die Aussiedler brauchen wir auch heute für junge Flüchtlinge mit Bleibeperspektive in Deutschland. Natürlich ist jede Einwanderergruppe anders, wie jeder Mensch anders ist. Aber Unterschiede, etwa der Religion, verlieren dann an Trennendem, wenn die aufnehmende Gesellschaft den Flüchtlingen mit Bleibeperspektive von Beginn an „Zugehörigkeit“ anbietet. Wenn wir die Flüchtlinge, die hier sind und hier bleiben, umfassend fördern und sie zugleich auffordern, ihre Talente zu entwickeln und einzubringen, dann kann auch ihre Integration zu einer Erfolgsgeschichte werden. Zu einer Erfolgsgeschichte, auf die wir einst mit dem gleichen Stolz zurückblicken können, wie wir jetzt auf die Integration der Aussiedler und Spätaussiedler schauen. Ein Garantiefonds 2.0, angepasst an die heutige Situation, das könnte etwas sein. Wenn wir jetzt die Weichen richtig stellen, dann kann auch die aktuelle Zuwanderung unser Land stärken, verjüngen und damit zukunftssicherer machen.

Thorsten Klute (SPD) ist Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales in Nordrhein-Westfalen,Jochen Welt (SPD) war von 1998 bis 2004 Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen.