Opfertagebuch 10.01.22: Trotz Säbelrasseln – Warum Putin sich als Opfer zeigt.

Opfertagebuch 10.01.22: Trotz Säbelrasseln – Warum Putin sich als Opfer zeigt.
Wer will schon zum Opfer werden. Dann lieber die Waffen sprechen lassen. (pixabyBild: militärparade Kiew)

Klar ist,  der russische Autokrat Putin hat mit den Angriffen auf den Donbass und  die Okkupation der Krim die Souveränität der Ukraine verletzt und das Völkerrecht gebrochen. Nun versammelt er mit einer gewaltigen Drohkulisse zigtausende Soldaten und militärisches Gerät an der Grenze zur Ukraine. Er lässt unverhohlen vom Einsatz militärischer Machtmittel sprechen, falls das Sicherheitsbedürfnis Russlands – sprich Putins – nicht ausreichend berücksichtigt wird. Konkret geht es darum, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und anderer Staaten der gefühlten russischen Einflusssphäre zu verhindern und die NATO-Präsenz in der Nähe russischer Grenzen zu verringern.

Für den informierten Betrachter ist die gegenwärtige Lage klar. Russland ist durch sein aggressives Handeln gegenüber der Ukraine und durch die Drohkulissen gegenüber der NATO und insbesondere ihren osteuropäischen Mitgliedern als Unruhestifter gar als Täter anzusehen, der den Frieden gefährdet, und der insbesondere die Ukraine zu einem Opfer gemacht hat. Daher sind die vorhandenen Opfergefühle und Ängste vor weiteren Okkupationen in der Ukraine  mehr als berechtigt. Die Opferängste in den zum Westen tendierenden Staaten der ehemaligen Sowjetunion als verständlich. Diese Kumulation von Opfererfahrung und Opferangst führt zu Verteidigungsoptionen und Machtdemonstrationen die ihrerseits wieder einen Beitrag zu einem sich hochschaukelnden Countervailing-Power leisten.  Bei der Beschreibung dieser Zusammenhänge geht es zunächst nicht um eine Bewertung, vielmehr um die Darstellung sich entwickelnder politischer Vorgänge.

Wenn es somit für das westliche und  vor allen Dingen für das ukrainische diplomatische und militärische Handeln, vom Wedeln mit der NATO-Fahne bis hin zum Ankauf türkischer Drohnen, eine einleuchtende moralische Rechtfertigung gibt, so verlangt die Aktions- und Reaktionslage der russische Seite einen genaueres Hinsehen. Hat das Handeln Putins und des russischen Apparats nicht auch eine für sie moralisch rechtfertigende Grundlage? Oder handelt es sich einfach nur um unmoralisches und eiskaltes politisches Schurkentum? 

Ein Blick in die politische, russische Seele.

Schauen wir mal genauer hin. Ein Mann wie Putin hat für sich so etwas wie ein handlungsleitendes Narrativ, quasi eine persönliche  Komfortzone,  entwickelt, das durch die Machtfülle und territoriale Herrschaft sowohl des Zarenreichs als auch vergangener Sowjet-Führer gespeist worden ist. Alle Entwicklungen die diesen Leitimpulsen entgegenstehen gefährden seine Komfortzone. Die Ausweitung der Einflusssphäre der USA, der NATO und auch der EU tragen, vor dem Hintergrund seines Idealbildes, zur Verunsicherung und zu aggressiven Reaktionen bei. Eine moralische Legitimation für das aggressive Handeln und auch für eine mögliche Eskalation, die bis zu einer bewaffneten Auseinandersetzung führen kann, entwickelt sich dabei aus dem Gefühl Opfer der westlichen Expansionsstrebens zu sein oder werden zu können.  Aber wodurch und wie kann sich Putin als Opfer fühlen, wobei er doch die Ukraine und andere zu Opfern macht? Ein Blick zurück in die Geschichte des politischen Handelns seit Gorbatschow hilft hier weiter.

Natürlich muss sich Russland vorhalten lassen, dass es nicht erst mit der Aggression gegen die Ukraine gegen die NATO-Russland-Grundakte verstoßen hat. Vielmehr begannen die Aktionen zur Sicherung der russischen Einflusssphäre schon 2008 mit dem Kaukasus- oder Georgienkrieg.  Die Grundakte von NATO und Russland wurde am 27. Mai 1997 in Paris unterschrieben. Sie erkennt die Veränderungen seit dem Ende des Kalten Kriegs an und strebt ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis an.  Grundsätze dieser Grundakte waren:  „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ ..sowie.. „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen“.

Aber schon zu dieser Zeit, unter Präsident Jelzin von 1991 bis 1999 gab es die Befürchtung einer Verletzung der russischen Einflusssphäre durch die angestrebten NATO – Mitgliedschaften ehemaliger Sowjetstaaten und Satelliten. Schon damals hatten Russlands Politiker die Befürchtung Opfer westlichen Expansionsstrebens zu werden. Der Westen machte das nach seiner Auffassung großzügige Zugeständnis, dass die an einer NATO-Mitgliedschaft interessierten Staaten Osteuropas zwar Mitglied werden können,  auf ihren Territorien aber keine Einrichtungen der NATO installiert werden dürfen.  Dieses hat sich inzwischen massiv verändert. Es gibt, insbesondere unter dem Eindruck des Ukrainekonflikts, faktische Stationierungen von Truppen und Einrichtungen. Das Gefühl, ein Opfer leerer Versprechungen geworden zu sein, ist deshalb sicher nicht ganz unbegründet.

Deutschlands Sonderrolle beim russischen Narrativ.

Gerade für uns Deutsche hat die russische Sorge um das Heranrücken der NATO an die eigenen Grenzen eine besondere Bedeutung.  Diese ging auf die Verhandlungen zur deutschen Einheit und die offensichtlich vertraulichen Gespräche zwischen Gorbatschow und Kohl zurück. Annähernd gibt ein Memorandum der Telefonkonferenz Bush-Kohl vom 1. Juni 1990 die damalige Gefühlslage wieder.  Das Aufbrechen des Ostblocks und die Wiederherstellung der deutschen Einheit waren für Gorbatschow immer mit der Erwartung der Verhinderung einer Schwächung der russischen Einflusssphäre verbunden. Sie gipfelte in der Erwartung, dass Deutschland gleichzeitig Mitglied in der NATO und dem Warschauer Pakt sein sollte. Zu einer solchen Entwicklung und der schriftlichen Fixierung entsprechender Einflusssphären kam es zwar nicht. Allerdings erinnere ich mich sehr gut an die Diskussionen im Bonner Politikbetrieb, an denen ich als junger Abgeordneter teilnehmen durfte. So hieß es immer, dass Kohl dem damaligen russischen Präsidenten Gorbatschow zwar nicht eine schriftliche Festlegung der Einflusssphären zugestehen konnte. Er soll ihm allerdings in die Hand versprochen haben, dass es keine Erweiterung der NATO in Richtung Osten geben würde. Ob das stimmt, steht auf dem einen Blatt.  Durch diese Beschreibung der damaligen Lage wird ein Blick auf die politische russische Seele gestattet. Man erkennt schon zu dieser Zeit die Erwartungen,  die sich als Narrativ und anzustrebende  Komfortzone in der russischen Politik manifestierte.

Diese Ausführungen zeigen die Einwirkung westlichen Handelns auf diese russische Komfortzone nach Beendigung des Kalten Krieges. Mit Übernahme des Präsidentenamtes durch Putin hat dieser diese Komfortzone nicht nur übernommen sondern sie durch seine ganz persönliche Einfluss- und Machterwartung ergänzt und weiter ausgebaut.  Anstatt gemeinsam Handlungsoptionen zu entwickeln, wie in der NATO-Russland-Grundakte festgelegt,   hat der Westen durch Nicht- und Falschhandeln, durch Ignoranz, Arroganz und Uneinigkeit, das Putinsche Gefühl der wiedererlangten Machtfülle auf der politischen Weltbühne gestärkt. 

Zurück zur Gegenwart:  Mit seiner so entwickelten Komfortzone, vor dem geschilderten historischen Hintergrund, scannt Putin nun die gegenwärtige Realität.  So ist es für ihn leicht, sich wegen gebrochener Versprechen und gefährdende Handlungen, Infragestellung zurückgewonnener Stärke, als Opfer zu gerieren und eine moralische Legitimation für aggressives Verhalten abzuleiten. Eine Legitimation, die insbesondere auch nach Innen eine stabilisierende Wirkung hat. 

Opfergefühle und das diplomatische Geschick.

Die sich nun hieraus ergebende  Situation ist eine höchst gefährliche Weltlage. Eine Lage,  in der zwei Machtsphären Opfergefühle entwickelt haben und dadurch die moralische Legitimation für ihr jeweiliges Handeln für sich in Anspruch nehmen. Opfergefühle, die nach Innen und Außen solidarisieren, sich vielfach jeder Sachlogik und Vernunft entziehen und so in eine Katastrophe führen können. Die beginnenden Gespräche zwischen Russland den USA und der NATO lassen zumindest hoffen, dass es trotz aller Opfergefühle noch Sachfragen gibt über die man zunächst reden,  verhandeln und Ergebnisse finden kann. Verhandlungen also, mit denen dann über ein gleichgewichtiges Nebeneinander ein neues Miteinander anzustreben ist. Grundlage dafür wird ein diplomatisches Klima sein müssen, dass vorhandenen Opfergefühle der Gegenseite verstehend und akzeptierend zur Kenntnis nimmt. Auf dieser Grundlage können dann gemeinsame Projekte entwickelt werden. Wie das geht?  Leerstunden einer derartigen Außenpolitik waren die Vorgehensweisen von Brandt und später Brandt/Scheel in der Ostpolitik ab 1966.  

 

NEUERSCHEINUNG    Jochen Welt,  OPFERZEITEN – Vom archaischen zum virtuellen Opfer.

Eine Zeitreise zur Entwicklung und Wirkung des Begriffes Opfer. Auf 200 Seiten  wird die Entwicklung zu einer Gesellschaft zunehmender virtueller Opfer analysiert. Auch die Bedeutung und Entwicklung von Opferschicksalen in der nationalen wie internationalen Politik wird erläutert.  Dazu werden auch Handlungsimpulse für Wege aus der Opferfalle entwickelt.