Wenn Demokratie und Rechtsstaat beliebig werden

Wenn  Demokratie und Rechtsstaat beliebig werden

 

Es sind doch alles keine Zufälle. Diese Demokratie erodiert an den verschiedensten Stellen. Polizisten, Rettungssanitäter, Feuerwehrleute werden bei ihren Einsätzen zur Zielscheibe ungebremster pöbelnder Aggression. Einsatzkräfte, die ihren Dienst am und für die Menschen versehen, werden nicht nur beschimpft, sondern auch noch tätlich angegriffen. Derartige Aktionen sind mehr als zufällige Ausbrüche individuell erklärbarer Aggression. Sie summieren sich zu Attacken gegen unseren Staat als dem legitimierten Träger des Gewaltmonopols. Polizisten, Feuerwehrleute werden als Agenten dieses Staates identifiziert. Eines Staates der, offensichtlich von bestimmten Bevölkerungsgruppen, immer weniger respektiert und schon gar nicht akzeptiert wird.

Das gilt auch für die von den gewählten Institutionen, wie dem Bundestag, beschlossenen Gesetze oder gar richterlichen Entscheidungen. Erlassene Demonstrationsverbote werden nicht akzeptiert, Richtersprüche werden diskreditiert, polizeiliche Anordnungen  unter Generalverdacht gestellt. Welchen Grund gibt es dafür, dass Polizeibeamte beschimpft werden, wenn sie bei einer Demonstration das Vermummungsverbot durchsetzen wollen? Der Hinweis auf die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Handelns ist hier ein beliebtes rhetorisches Mittel. Ein Mittel, dass von Medien, interessierten Politikern gerne diskutiert und breitgetreten wird. Am Ende steht der Staat oft  als illiberaler Depp da.

Was hier noch leicht als demokratierelevant erkannt wird fängt eigentlich schon viel früher an und wirkt auch schon seit vielen Jahren. Und es geht dabei um die berühmten Kleinigkeiten. So kann man beim Sonntagsspaziergang im angrenzenden Naherholungsgebiet lehrreiche Erfahrungen machen. Freundlich hinweisend werden an den Eingängen zu den Naherholungsgebieten Regeln für Reiter, das Anleinen von Hunden, das Fahren mit Rädern und das Rauchen im Wald vermittelt. Keine hundert Meter weiter rasen Sand aufwirbelnd einige Mountainbiker vorbei, danach kreuzt eine Gruppe von Hundefreunden den Weg, die Hunde sind natürlich nicht angeleint. Auch die zwei Reiter nutzen nicht die vorgesehenen Reitwege, die Pferde sind dazu ohne die vorgeschriebene Plakette unterwegs.  Man kann das nun als Kleinigkeit abtun. Nein, hier fängt es an. Wer Vorschriften erlässt, der muss auch auf deren Einhaltung drängen und die Nichtbefolgung sanktionieren.

Ähnliches gilt für die Aktionen der „Letzten Generation“. Hier werden Gesetze verletzt. Hier werden andere Menschen behindert, belästigt und auch an Leib und Leben gefährdet. Hier wird Eigentum beschädigt oder zerstört. Und die Begründung:  Der Staat verletze das Grundgesetz durch Nichthandeln beim Klimaschutz. Das rechtfertige ein Widerstandsrecht von Bürgerinnen und Bürgern. Der Zweck heiligt die Mittel.

Ebenso sieht es bei den Protestaktionen der Linken-Szene zum Urteil gegen Lina E. aus. Am Mittwoch (31. Mai) hatte das Oberlandesgericht in Dresden die 28 Jahre alte Studentin wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextreme zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Der Haftbefehl wurde unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Die Reststrafe muss sie erst verbüßen, falls das Urteil rechtskräftig wird.  Aktivisten der Linken Szene rufen zu bundesweiten Demonstrationen und zum Widerstand als Tag X auf. Begründung: Nicht Lina E. sei zu verurteilen. Vielmehr der Staat, der nicht genug gegen Rechtsextremismus vorginge und auf dem rechten Auge blind sei.

In jedem der genannten Beispiele ist es das gute Recht von Betroffenen und Interessierten sich für mehr oder weniger staatliche Aktivitäten einzusetzen. In der Öffentlichkeit, auf Demonstrationen, in und gegenüber Parteien und Mandatsträgern. Aber in keinem Fall hat jemand das Recht das Außerkraftsetzen von rechtsstaatlichen Regeln selbst vorzunehmen. Das ist ein Weg in die sozialisierte Selbstjustiz. Das Gesetzgebungsrecht, die Durchsetzung und Beurteilung und Ahndung von Verfehlungen, einschließlich der Anwendung von Gewalt, liegen allein bei den zuständigen staatlichen Agenturen.

Wer hier im Kleinen wackelt gefährdet durch ständige Lockerungsübungen die Grundregeln unserer Demokratie. Wer die Aufweichung dieser rechtsstaatlichen Regeln aufweicht, der gefährdet unsere Demokratie.

Wie kommt es nun zu derartigen Erosionen. Es fällt auf, dass sich alle hier genannten Zielgruppen als Opfer staatlichen Handelns fühlen. Was für den einen die zu große Regelungswut des Staates ist, ist für die anderen fehlendes staatliches Handeln beim Klimaschutz oder Rechtsradikalismus. Das Gefühl ein Opfer dieses falschen, inkompetenten oder nicht nachvollziehbaren Handelns zu sein, bringt den Gesetzesbrechern ihre Legitimation zum eigenständigen Handeln. Man glaubt: Opfer dürfen sich ja wehren. Es ist für Opfer auch legitim zum eigenen Selbstschutz vorhandene Grenzen bewusst zu missachten.

Das was wir hier erleben ist das Ergebnis einer sich als liberal verstehenden Demokratie. Ein Ergebnis einen Mediengesellschaft, die sich weitgehend auf Opferschicksale in „Bad-News“ konzentriert und diese durch die Multiplikationswirkung der sozialen Netze vervielfältigen lässt. Wer sich hierüber seine handlungsleitenden Narrative entwickelt und diese dann mit der Wirklichkeit scannt, der muss zu dem Schluss kommen ein gefühltes Opfer zu sein, das dann zum Handeln im oben genannten Sinne legitimiert ist.

Wer diesen Weg in eine Gesellschaft voller gefühlter Opfer ändern will, der muss das Handeln der politischen und staatlichen Akteure ändern. Es gehört offensichtlich zur ständig wahlkämpfenden parlamentarischen Demokratie, dass jeder Wahlkämpfer gerne „Everybody’s Darling“ sein will. Dazu gehört die Präsentation von materiellen und immateriellen Wahlversprechen. Insbesondere die Verkündigung immer weiterer Freiheitsgrade. Nur wenn das „immer mehr“, „immer größer“ und „immer liberaler“ gegenüber dem Wähler, durch eine Zusammenspiel aus Politik und Medien ent-täuscht wird, kann es zu realistischen Narrativen kommen, die dann auch beim Scannen mit der Wirklichkeit ein Opfergefühl vermeiden. Schließlich muss staatliches Handeln so gerecht wie eben möglich, konsequent und wehrhaft sein. Eine Illusion? Vielleicht. Aber was ist die Alternative? Jede weitere Entwicklung in eine virtuelle Opfergesellschaft  wird zu einer Gefährdung unserer Demokratie.