Erdogan-Wahl in Deutschland: Mehr als ein Problem der Deutschtürken
Es ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu verstehen: Da leben 2,9 Mio türkischstämmige Menschen in Deutschland, davon 1,5 Mio mit türkischer Staatsangehörigkeit. Hiervon geben rund 730.000 ihre Stimme ab und wählten zu 67 % Recep Erdogan erneut zum Staatspräsidenten. Konkret: Rund ein Drittel der Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit haben Erdogan gewählt. Das sind gut 17 % aller türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Allerdings: Die Tendenz ist gegenüber 2018 steigend.
Insgesamt sollte man angesichts dieser Datenlage mit einer Generalisierung vorsichtig sein. Gleichwohl macht es Sinn auf diese derzeit gut 17 % der türkischstämmigen Menschen zu blicken, die Erdogan gewählt haben. Hier handelt es sich doch um Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich aus dem kuschligen Bett der Rechtsstaatlichkeit heraus, in sozialer und weitgehend wirtschaftlicher Sicherheit lebend, für ein zunehmend autoritärer werdenden türkischen Präsidenten entschieden haben. Das tun Sie aus dieser Komfortzone heraus für rund 85 Millionen in der Türkei lebenden Menschen. Und sie bestimmen mit darüber, dass die Pressefreiheit weiter eingeschränkt wird, dass Minderheiten verfolgt, Frauen diskriminiert und Andersdenkende verhaftet werden. Sie verhelfen Erdogan zunächst von einer parlamentarischen Demokratie zu einem autoritären Präsidialsystem und mit dieser Wahl wohl zur Präsidialdiktatur. Sie stützen damit ein System, das ökonomisch Achterbahn zu Lasten der unteren Einkommensgruppen fährt und protektionistische Vetternwirtschaft zum Standard erhebt. Welch ein Hohn. So kommt man aus dem Bauch heraus schnell zu dem Schluss, dass man den Erdogan-Wählern nahelegen möchte diese eingebrockte Suppe doch auch in der Türkei auszulöffeln. Oder ihnen doch zumindest abzuverlangen als deutsche Staatsbürger nur in Deutschland zu wählen.
Nun sind das alles recht emotionale, vielleicht auch unrealistische Vorstellungen. Schließlich wird es doch gute Gründe dafür geben, dass sich immerhin mehr als 500.000 Deutschtürken für Erdogan entscheiden. Klar, sagen gesinnungsethische Zeitgenossen, wer hier nur benachteiligt wird und sich nicht zugehörig fühlen kann, der wird sich in eine verklärte Sicht der alten Heimat retten. Und diese Sicht wird in den erklärenden Antworten in den Nachwahlbefragungen bei deutschen Erdogan-Wählern gerne aufgegriffen. Man wähnt sich halt als ein Opfer fehlender deutscher Anerkennung, Opfer von Benachteiligung und Islamophobie. Wer will schon gerne Opfer sein. Deshalb geht es denen ja auch darum es den vermeintlichenVerursachern dieser fehlenden Anerkennung mal so richtig zu zeigen. Wenn dadurch dann der „große Retter“ Erdogan gewählt wird, dann gleicht das zwar einem pubertären Protestverhalten, verweist aber auf tieferliegende Probleme
Deshalb ist das gezeigte Wahlverhalten auch mehr als die oft verklärte Heimat-Tümelei so mancher Auslandscommunities in fast allen Zuwanderungsländern der Welt. Es geht bei dieser und den letzten Wahlen der Deutschtürken um ein Phänomen der europäischen und insbesondere der deutschen Demokratie. Diese zunehmende Sympathie für autoritäres Gehabe und nationalistisches Geschwurbel finden wir allerdings auch bei einem zunehmenden Teil der deutschen Bevölkerung. Die AFD, Bürger in Wut u.a. hangeln sich mit zunehmenden Prozentpunkten von einem gesellschaftspolitischen Konfliktfeld zum anderen und stehen bei Wahlprognosen gleichauf mit den Sozialdemokraten und schon längst vor den Grünen.
Die erkennbaren gemeinsamen Ursachen: alle fühlen sich als Opfer. Opfer einer verfehlten Europapolitik, einer falschen Migrationspolitik, einer Corona-Diktatur, der Russlandphobie, der Klimahysterie, der Islamophobie und der Benachteiligung hier lebender Türken. So unterschiedlich die Opferfelder sind, so austauschbar ist das Verhalten der vermeintlichen Opfer. Ob Einheitsverlierer in Sachsen, Migrationsgeschädigte in Sachsen-Anhalt, Heizungsverunsicherte in Bayern oder Teilhabeverlierer unter Türkischstämmigen im Ruhrgebiet alle suchen und finden zunächst Personen oder Institutionen die sie in ihrem Opferschicksal bestätigen, und die sie in die virtuelle Solidargemeinschaft der jeweiligen Opfergruppe aufnehmen. Und in und mit diesen Gruppen gelingt es Parteien und Personen sich als Retter zu präsentieren und die Betroffenen von diesem unerträglichen Gefühl ein Opfer zu sein zu befreien.
Also ist das Wahlverhalten der 500.000 Deutschtürken die türkische Seite der gleichen Opferthematik wie wir sie in unseren westlichen Demokratien und insbesondere in Deutschland kennen. Und wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass es sich bei der deutschtürkischen Erdoganwahl, ebenso bei den teilweise panischen Migrationsängsten, überwiegend um ein Phänomen sozial benachteiligter, geringer Qualifizierter und schlechter informierter Bevölkerungsgruppen handelt. Wenn hier die Zahlen der Betroffenen zunehmen, dann zeigt das, dass dieser Teil der Bevölkerung offenbar immer größer wird. Es zeigt, eine Spaltung der Gesellschaft, die eine Neudefinition des Begriffes soziale Unterschicht nötig macht. Gemeint ist der Teil der Bevölkerung der durch fehlende materielle und immaterielle Ressourcen in seiner gesellschaftlichen Partizipationsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist. Da ist es gleich, ob es sich um einen Deutschtürken aus Gelsenkirchen oder einen Anstreicher aus Cottbus handelt.
Wer hier Veränderungen erreichen will, der darf nicht nur auf das vermeintliche „Fehlverhalten“ einzelner Opfergruppen schauen. Es gibt nämlich eine Vielzahl von gefühlten Opferschicksalen unterschiedlicher Genese. Deshalb gilt es zunächst das gesellschaftliche Gerechtigkeitsgefüge neu zu justieren und vielschichtige Maßnahmen zur Stärkung der Partizipationsfähigkeit zu ergreifen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Opferschicksale sich aus dem Abgleich selbstgewählter oder vermittelter Narrative mit der Wirklichkeit ergeben. Weicht die erlebte Realität von der gewünschten Scheinwelt ab, dann entwickeln sich Opferschicksale. Die Gründe für die Abweichung werden nicht bei sich selbst gesucht, sondern bei greifbaren oder angebotenen Sündenböcken.
Hier ist es Aufgabe aller demokratischen Akteure proaktiv tätig zu werden und fehlleitende Narrative zu ent-täuschen. Politik muss nicht gleich hoffende Erwartungen der Menschen wie Churchill ent-täuschen („I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat“). Aber mehr Ehrlichkeit und Realismus, als ein ständig werbender, versprechender und sich überbietender Wahlkampf der Parteien, könnte vielen Menschen helfen den eigenen Status zu justieren.