Wer ist Ihr Präsident Gauck oder Erdogan? – Erdogan!
Das Demonstrationsrecht ist bei uns grundgesetzlich garantiert und ein starkes Recht. Ob gegen Stuttgart 21, die Kurdenunterdrückung oder den Putsch in der Türkei. Gleiche Rechte für alle Bürger im Schutzraum unseres Grundgesetzes. Und doch mutet es befremdlich an, wenn deutsch-türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger auf Kundgebungen nach dem Putsch-Versuch die Erdogan-Demokratie der Türkei preisen, den Ruf nach der Todesstrafe für Putschisten skandieren und Erdogan zum Helden stilisieren.
Vor allen Dingen macht es diejenigen traurig, die über Jahrzehnte für mehr Integration und Partizipation gekämpft haben. Diese stellen nun desillusioniert fest, dass Wunsch und Wirklichkeit weit auseinanderliegen. So teilt eine große Zahl türkischstämmiger Mitbürger zwar mit uns die Werkbänke, das Sozialsystem, die Konsumgesellschaft und nimmt so berechtigt wie selbstverständlich unseren demokratischen Rechtsstaat für sich in Anspruch. Ein gemeinsames Gefühl zu diesem Rechtsstaat, zu Deutschland, teilen diese Mitbürger vielfach nicht.
Dabei schrecken die unzähligen Interviews von Deutsch-Türken in den Medien auf, die den aktuellen türkischen Weg bejubeln und Erdogan verehren: „ Wer ist Ihr Präsident?“ fragte der Journalist Mitglieder der deutsch-türkischen Community. „Erdogan“, die einhellige Antwort und nicht Joachim Gauck. Nicht nur der Journalist blieb sprachlos zurück.
Warum nur? Einige sind erstaunt. Andere haben es schon immer gewusst: Es liegt an einer verfehlten Integrationspolitik. Nun sollen an dieser Stelle die Defizite der bundesdeutschen Integrationspolitik nicht schöngeredet werden. Wie das viele Jahre anhaltende politische Verleugnen von Zuwanderung und das nicht Vorhandensein einer nachholenden Integrationspolitik. Gleichwohl gilt, zu einem Integrationsprozess gehören immer zwei Partner. Eine vielfach, über Jahre, aufgebaute und gepflegte Opfermentalität „Wir sind hier ja nicht gewünscht“ ist für Integration, Mitwirkung und Teilhabe in einer Gesellschaft genauso hinderlich wie eine verfehlte Integrationspolitik der Aufnahmegesellschaft.
Dieses Beziehungsgeflecht von verfehlter Integrationspolitik und hindernder Opfermentalität gilt übrigens nicht nur für unsere türkischstämmigen Mitbürger. Ähnliche Entwicklungen sind durchaus auch in der russland-deutschen bzw. russischsprachigen Community zu entdecken. Die Instrumentalisierung des „Falles Lisa“ durch die russische Regierung und die bedingungslose Gefolgschaft durch erstaunlich viele Spätaussiedler macht sprachlos.
Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation bedarf einer ehrlichen Bestandsaufnahme und einer Bereitschaft zu politischen Schlussfolgerungen und nachhaltigem Handeln. Ohne diesen Drei-Schritt hinterlässt die Politik Ratlosigkeit, Zweifel an System und Personal, Angst, Resignation oder gar Wut.
Und bei einer Bestandsaufnahme werden wir feststellen, dass wir eine Vielzahl von Aufgaben nicht, nicht ausreichend oder noch nicht gelöst haben. Das gilt für die Chancengleichheit in Schule und Beruf, das gilt für eine ausreichende Sprachförderung ebenso, wie für die politische Partizipation in den verschiedenen Stufen unseres Gemeinwesens.
Es gilt aber erst recht für den emotionalen Teil des Ankommens. Hier stellen wir eine gespaltene Identität und wechselnde Loyalitäten fest. Kein Wunder. Man ist geneigt darauf hinzuweisen, dass viele Deutsche aus Russland in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion als „die Deutschen“ ausgegrenzt wurden. Nach der Übersiedlung in die Heimat ihrer Vorfahren, Deutschland, wurden sie vielfach als „Russen“ beschimpft. Es wundert nicht, dass die stigmatisierte Identität aus Trotz oder Resignation vielfach Wirklichkeit wurde. Ähnliche Beobachtungen, bezogen auf den zugewiesenen Status in Deutschland, sind auch bei unseren türkischstämmigen Mitbürgern zu machen.
Gleichwohl ist darauf zu verweisen, dass eine fehlende oder nur begrenzte Identifikation mit Deutschland, inzwischen über mehrere Generationen hinweg, nicht allein mit dem Fingerzeig auf die einheimische Bevölkerung oder die hiesige Politik zu erklären ist. Ankommen heißt nämlich nicht nur, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Ankommen heißt, die Werte und kulturellen Besonderheiten des Aufnahmelandes zu akzeptieren. Die Verfassung nicht der Scharia unterzuordnen, meint die Säkularisierung des Staates zu akzeptieren und zu leben. Heißt sich nicht ständig als Opfer gewollter oder vermeintlicher Missachtung zu präsentieren. Heißt sich aktiv einzumischen in die deutsche Gesellschaft, in und an ihr mitzuwirken und sich nicht zu separieren.
Den Hauptvorwurf, den sich die Aufnahmegesellschaft allerdings gefallen lassen muss, ist, auf den affektiven, emotionalen Teil der Integration überhaupt nicht geachtet zu haben. Da nützt auch kein „Wir fordern mehr Loyalität von den Deutsch-Türken“ a la Volker Kauder. Identifikation und Loyalität kann man nicht mit rationalen Argumenten einfordern. Loyalität zu einer Gemeinschaft, Identifikation mit ihr, erreicht man durch gemeinsames Tun und Erleben. Das, was man gemeinsam gestaltet, ist einem auch gemeinsam etwas wert. Dieser Teil fehlt beim Integrationsmanagement in Deutschland schon seit Jahrzehnten gänzlich. „Die Deutschen aus Russland werden sich schon integrieren weil sie ja deutschere Abstammung sind“, so lautet die verallgemeinernde Analyse seit fast drei Jahrzehnten. Oder: „Die „Gastarbeiter“ werden sich im Laufe der Jahre schon integrieren. Spätestens in der nächsten Generation.“ Wie wir inzwischen wissen, sind diese verallgemeinernden Aussagen simple Fehlannahmen, die sich inzwischen bitter rächen.
Auf dem nach wie vor ungeordneten Feld der Zuwanderung in Deutschland können Erdogan und Putin ernten und -wenn sie es denn wirklich wollen- die soziale Lage in Deutschland destabilisieren. Offensichtlich haben beide auf dem Weg dorthin schon einiges erreicht. Wo ist unser Gegenkonzept? Wann endlich wird das Thema Zuwanderung einmal ganzheitlich angegangen? Emotionale Akzente werden in den Integrationskonzepten zu wenig gesetzt. Ankerpunkte für eine Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft sind kaum erkennbar. Organisatorisch ist das Thema Zuwanderung auf eine Vielzahl von Ministerien und Behörden aufgeteilt. Das schafft Chaos, verhindert eine ganzheitliche Herangehensweise und vermeidet Synergien.
Ein Heimat- und Integrationsministerium – oder wie es schließlich auch heißen mag – das nicht nur die rechtlichen Faktoren der Zuwanderung bearbeitet, nicht nur Integrationsmanagement betreibt, sondern sich auch die Verankerung von Zugewanderten in unserer Gesellschaft, das Miteinander von Einheimischen und Zugewanderten zur Aufgabe macht, gehört auf die Agenda. Bis zum Integrationsministerium haben sich die Akteure der Integrationspolitik schon vorgetraut. Nur die Umsetzung fehlt.
Es muss ein Gegengewicht zu den emotionalisierenden russischsprachigen oder auch türkischsprachigen Fernsehsendern geschaffen werden. Vielfach als gewollte Propaganda kommen erlebnisorientierte Ereignisse über Bild und Ton in die Wohnzimmer und Herzen vieler zugewanderter Familien. Da reicht ein Radiosender „Multikulti“ nicht aus. Für die Außenwerbung leisten wir uns eine insgesamt gut ausgestattete „Deutsche Welle“. Für die Werbung nach Innen haben wir offenbar weder einen Plan noch das entsprechende Geld.
Es ist mehr als dringlich jetzt die nächsten Schritte zu tun und die heimatliche Identifikation mit Deutschland herauszufordern und zu ermöglichen. Gedankliche Anknüpfungspunkte, die, neben der Intensivierung der Medienarbeit über einen kognitiven Integrationsansatz hinausgehen, wie z.B. die Idee der Planungszellen von Peter C. Dienel, gibt es seit Jahren. Sie sind seit Jahren, insbesondere in der Arbeit mit Minderheiten, erprobt. Es gilt, durch gemeinsames Erleben, Planen und Gestalten, neue Ankerpunkte für die Identifikation mit und in Deutschland zu schaffen.