Hartmut Koschyk und Jochen Welt: »Eine Brücke, die wir brauchen – gerade jetzt«

Hartmut Koschyk und Jochen Welt:  »Eine Brücke, die wir brauchen – gerade jetzt«

 

Jochen Welt und Hartmut Koschyk, zwei ehemalige Aussiedler­beauftragte der Bundesregierung, sprechen über die gelungene Integration von viereinhalb Millionen Menschen. Das Interview führte Uwe Knüpfer im Dezember 2014 (in OBS- Beiträge der Akademie für Migration und Integration Heft 15 – Integration stiften!)

 

Bis heute wird gesagt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Wie verträgt sich dieses Selbstbild mit der Tatsache, dass seit 1952 viereinhalb Millionen Aussiedler und Spätaussiedler bei uns heimisch geworden sind?

 

Welt: Bis 1998 hieß es offiziell: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das war die gigantische Selbsttäuschung der späten Jahre des letzten Jahrhunderts. Dabei sind auf der Grundlage des Bundesvertriebenengesetzes Millionen von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Ostmitteleuropa nach Deutschland gekommen, die deutlich gemacht haben, dass wir ein Zuwanderungs- oder Einwanderungsland sind. Allerdings haben sie einen Sonderstatus. Sie gelten ja als deutsche Staatsangehörige.

 

Koschyk: Die Aufnahme von Aus- und Spätaussiedlern ist Teil des Bemühens der Bundesregierung, sich der Verantwortung Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen zu stellen und lässt, weil Sonderfall, nicht den allgemeinen Schluss zu, die Bundesrepublik verstehe sich seit den 50er Jahren als Einwanderungsland – mag sich Deutschland auch gegenüber den (Spät-)Aussiedlern wie ein Einwanderungsland verhalten haben. Ihre Integration wurde von staatlicher Seite systematisch und mit einem strukturierten Integrationsangebot angegangen. Das war richtig und dieses Angebot war auch Vorbild für die heutigen Integrationsangebote des Bundes für Zuwanderer.

Nun macht ein Status noch keine Integration. Auch wenn sie als Deutsche galten, waren es aber doch Menschen, denen jedenfalls die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik eher fremd gewesen ist.

 

Welt: Das war ja das ganz große Missverständnis derjenigen, die bis 1998 für Integrationspolitik in Deutschland verantwortlich waren. Die haben gesagt: da kommen jetzt Deutsche nach Deutschland. Doch im Grunde waren es Menschen mit Migrationshintergrund, die die gleichen Probleme mit sich bringen wie alle anderen Zuwanderer auch. Angefangen mit der Sprache. Darüber ist in den frühen 1990er Jahren zum ersten Mal sehr intensiv diskutiert worden, auch im Rahmen des Asylkompromisses. Dann ist 1998 zum ersten Mal ein Integrationskonzept für Aussiedler entwickelt worden, auf der Grundlage des neuen Prinzips »Fördern und Fordern«.

 

Koschyk: Die Sozialisierung und Integration in ein als fremd empfundenes Gesellschaftssystem ist regelmäßig schwer und anstrengend. Und natürlich fühlt man ich – ganz unabhängig vom eigenen rechtlichen Status – zunächst mehr oder weniger fremd. Umso mehr ist zu würdigen, dass die Spätaussiedler mittlerweile sehr gut integriert sind. Dies bestätigt eine 2013 erstellte Analyse aktueller Daten und Forschungsergebnisse zu Aussiedlern in Deutschland des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Im Übrigen: Auch um dem Gefühl der »Fremdheit« entgegenzuwirken, bietet der Bund zur Identitätsstärkung der Spätaussiedler eine sogenannte ergänzende Maßnahme nach § 9 Absatz 4 Bun­desvertriebenengesetz an – den Kurs »Identität und Integration PLUS«.

 

Stellte der umstrittene Asylkompromiss eine Wasserscheide für den Umgang mit dem Thema Ein- und Zuwanderung dar?

 

Koschyk: Der Asylkompromiss 1992 wird heute häufig auf die Einschränkung des Asylgrundrechts reduziert. Tatsächlich war er viel umfassender angelegt. Insbesondere wurde auch der Zuzug von Aussiedlern gesteuert und begrenzt, die Einbürgerung von Ausländern wurde erleichtert. Durch diesen Ansatz konnte er in Deutschland eine befriedende Wirkung entfalten und zur Herstellung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts beitragen. Die in ihm niedergelegten allgemeinen Grundsätze sind auch heute noch Wort für Wort richtig.

 

Welt: Man darf nicht vergessen: Es war die Zeit der großen Zahlen. Es kamen Tausende täglich aus allen Richtungen nach Deutschland, schon fast vergleichbar – von den Zahlen her – mit dem, was wir heute erleben. Man konnte sich dem Thema nicht mehr entziehen. Die örtlichen Bürgermeister waren alarmiert. Es herrschte eine sehr aufgeheizte, explosive Stimmung, die es einfach notwendig machte zu hinterfragen: Hat eigentlich jeder, der eine deutsche Abstammung nachweisen kann, per se das Recht, nach Deutschland zu kommen? Und wen darf er mitbringen? Wie kann man die »Volkszugehörigkeit«, von der das Gesetz spricht, nachweisen? Das Gesetz verlangt den Nachweis eines Kriegsfolgenschick als. Wie kann man das tun, fragte man sich und kam zu der Lösung: man muss muttersprachlich die deutsche Sprache gesprochen haben. Das heißt vielfach: die Akzentsprache, die ich über die Zeiten hinweggerettet hat und an der die Leute erkannt wurden – und wegen der sie letztlich auch verfolgt worden sind.

Es gab unter Stalin sehr klare Verfolgungstatbestände. Diese Tatbestände begründeten den Rechtsanspruch dieser Menschen, nach Deutschland zu kommen. Und nicht nur sie allein. Die Deutschstämmigen selbst: da sind die sogenannten § 4er des Bundesvertriebenengesetzes. Ihre Abkömmlinge, die sie mitbringen dürfen, das sind die 7er, und dann gibt’s die Ehepartner nicht deutscher Abstammung: die wurden dann nach § 8 aufgenommen. Nur der Vierer musste seine Sprachkenntnisse nachweisen, und der nahm dann die 7er und die 8er in einem Schlepptau mit. Später hatten wir dann wesentlich mehr 7er und 8er, die nach Deutschland kamen. Die 4er stellten nur noch ein Drittel der eigentlich Berechtigten. Das musste zu Integrationsproblemen führen. Die mit einreisenden Angehörigen brachten oft keinerlei Deutschkenntnisse mit und stießen hier auf eine ihnen völlig fremde Welt.

Es musste also integrationspolitisch mehr gemacht werden. Als zweiter Teil des Konzeptes der späten 1990er Jahre kam unter meinem Vorgänger Horst Waffenschmidt hinzu: Bleibehilfe in den Herkunftsländern. Vielleicht, so die Überlegung, haben die Ausreisewilligen ja vor allem den Wunsch, in Wohlstand und sozialer Sicherheit zu leben. Wenn sie dann in Omsk oder Nowosibirsk oder an der Wolga selbst die Chance dazu geboten bekommen: vielleicht bleiben sie ja dann dort.

 

Und: Ist dieses Konzept aufgegangen?

Welt: Nur zum Teil. Manches wurde auch in den Sand gesetzt. Horst Waffenschmidt hat damals in erheblichem Umfang investive Mittel für Siedlungen der Deutschen aufgebracht. Dieses »Betongeld« kam aber vielfach gar nicht denen zugute, für die es gedacht war. Oder die Projekte waren überdimensioniert. Sie wirkten provokativ den anderen Einheimischen gegenüber. Wenn Deutsche in Villen leben und Russen in der Nachbarschaft in ärmlichen Verhältnissen: das passte nicht. Deshalb haben wir umgesteuert und mehr Geld in Ausbildung und Qualifizierung gelenkt. Das hat, verbunden mit einem strengeren Sprachtest-Regime zu drastisch sinkenden Zuwanderung zahlen geführt.

 

Heute steigen die Zahlen wieder, vor allem die der Flüchtlinge, aber auch der Spätaussiedler. Sie sind wieder auf dem Niveau der frühen 1990er. Damals, sagten Sie, Herr Welt, war die Situation explosiv. Den Eindruck hat man heute nicht. Was hat sich geändert?

Welt: Ich würde nicht unterstreichen, dass die Lag heute nicht explosiv ist. Ich glaube, dass unterm Tisch eine Menge abläuft. Wir tun gut daran, das aufmerksam zu beobachten. Aber das, was jetzt in Syrien und drum herum geschieht, ist für viele Leute hautnah erlebbar. Das ist neu. Ich glaube dennoch nicht, dass sich die Akzeptanz fundamental verändert hat. Wir bleiben alle aufgefordert klarzumachen, dass Menschen, die zu uns kommen, zwar im Augenblick eine Last darstellen, die wir zu schultern haben, aber dass man, wenn man genau rechnet, auch erkennt, dass diese Menschen mithelfen, gesellschaftlichen Mehrwert zu realisieren.

Nach dem Jahr 2000 habe ich die Ergebnisse der Olympischen Spiele analysiert und wissen wollen, wie hoch der Anteil der deutschen Medaillengewinner mit Migrationshintergrund war. Und siehe da: ihr Anteil war sehr hoch. Wir haben dann sehr schöne Kampagnen zum Beis piel mit der Florettfechterin Rita König gemacht, die aus Siebenbürgen stammt, mit der Aussage: Mensch, die leisten was für Deutschland!

Koschyk: Die Zahl der nach Deutschland kommenden Spätaussiedler ist ganz und gar nicht mehr auf dem hohen Niveau der frühen 1990er Jahre. Wurden 1990 knapp 400.000 Aussiedler und 1999 noch mehr als 100.000 Spätaussiedler aufgenommen, so werden es 2014 etwas mehr als 5.000 Spätaussiedler mit ihren Angehörigen sein. Es zeigt sich also ein erheblicher Rückgang bei der Zahl der aufgenommenen Spätaussiedler.

 

 

 

Wenn es doch solche Kampagnen gab wie die mit Frau König – oder auch die des Deutschen Fußball-Bundes – und wir nun schon seit Jahrzehnten Seite an Seite mit Zugewanderten und Integrierten leben, woher kommt dann das explosive Potential? Warum muss immer noch erklärt werden, was doch offensichtlich sein sollte?

 

Koschyk: Offensichtlich dürfen wir nicht nachlassen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Spätaussiedler ein Gewinn für Deutschland sind und ihre Aufnahme bei uns eine Investition in die Zukunft Deutschlands war und ist. Das geht aus der bereits erwähnten Untersuchung de BAMF (Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) klar hervor. Gleiches trifft auf Ausländer zu. Eine gerade veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung (Verfasser: Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung) hat errechnet, dass Ausländer den Sozialstaat entlasten und Deutschland einen Nettogewinn von weit über 20 Mrd Euro jährlich einbringen. Dabei sind die erfolgreichen Eingebürgerten nicht einmal mitgezählt. Wenn die nachfolgenden Generationen aufgrund gelungener Bildungsaufstiege noch besser integriert sein werden – wo­von auszugehen ist- fällt diese Bilanz in Zukunft noch viel positiver aus. Denn Investitionen in Bildung und Integration rechnen sich ökonomisch. Erfreulich ist auch, dass inzwischen die Medien solche Erfolgsmeldungen als Schlagzeile oder Hauptnachricht aufgreifen.

 

Welt: Es gibt eben einen großen Unterschied zwischen dem Rationalen und dem Emotionalen. Ich glaube, latent ist immer noch die Angst da, dass man etwas weggenommen bekommt. Dem liegen ganz simple gruppendynamische Vorgänge zugrunde. Immer wenn ein Neuer in eine Gruppe hineinkommt, verändert sich etwas in der Gruppe. Und nicht per se ist der Neue willkommen. Der wird erst einmal argwöhnisch beobachtet. Was ist das für einer? Wo kommt der her? Und das, was in Kleingruppen ganz normal ist und womit Pädagogen umgehen müssen, das findet in Gesellschaften ganz ähnlich statt. Also: wir müssen klarmachen, dass Zuwanderer niemandem einen Stuhl wegnehmen, sondern einen eigenen Stuhl mitbringen. Die Gruppe wird bereichert. Eine aufgefrischte Gruppe wird stärker, sie wird aktiver, sie wird innovativer, bunter, kreativer. Dies ständig deutlich zu machen und an Beispielen zu belegen – wie dem von Miroslav Klose z.B. –  ist unsere Aufgabe. Wir müssen zeigen: Menschen wie Miroslav Klose verbessern unser Ansehen nach draußen, auch Dein Ansehen!

 

Welche Rolle kommt dabei der Otto Benecke Stiftung zu?

 

Koschyk: Die Otto Benecke Stiftung ist seit langen Jahren als Mittlerorgani­sation für das Bundesministerium des Innern im Bereich der Förderung der deutschen Minderheiten in den MOE-Staaten tätig und führt dabei insbesondere Programme im Bereich der Jugendarbeit und der Aus- und Fortbildung durch. Seit einigen Jahren fungiert die Otto Benecke Stiftung auch als Mittler für die Umsetzung des BMI-Förderprogrammes zu Gunsten der deutschen Minderheit in der Republik Moldau. Diese umfasst noch ca. 2.000 Personen. Mit einem Budget von bis zu 40.000 € wird vor allem die ethnokulturelle Arbeit von vier noch aktiven deutschen Vereinen unterstützt. Hervorheben möchte ich daneben insbesondere das vom Bundesministerium des Innern seit dem Jahr 2007 geförderte Qualifizierungsprogramm »YOU.PA – Young Potentials Academy«, welches sich an junge Menschen im Alter von 18 bis 28 Jahren aus Polen, Rumänien, Ungarn und der Slowakischen sowie Tschechischen Republik richtet, die sich in der deutschen Minderheit engagieren. Das Programm qualifiziert junge Menschen für die ehrenamtliche Mitarbeit und bietet neue persönliche und berufliche Perspektiven. Langfristig soll es helfen, die Arbeit der Organisationen deutscher Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu stärken. Dies ist umso bedeutender, als die Angehörigen der deutschen Minderheiten heute eine entscheidende Mittlerrolle bei der politischen und wirtschaftlichen Annäherung ihrer Heimatländer an die Bundesrepublik Deutschland bekleiden und somit auch zu einer Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses beitragen. Für 2015 ist erstmals auch eine Einbeziehung Moldaus in das von der Otto Benecke Stiftung betreute »YOU.PA«-Programm beantragt.

 

Die OBS leistet mit diesem Programm einen wertvollen Beitrag zur Wei­terentwicklung und Stärkung der Strukturen der deutschen Minderheiten.

Welt: Die OBS war immer da, wenn man sie brauchte. Sie hat Konzepte entwickelt, sie ist in die Herkunftsländer gegangen. Menschen dazu zu verhelfen, durch Qualifikation zu einem gestaltenden Teil der Gesellschaft zu werden: das ist ja immer die Zielsetzung der Otto Benecke Stiftung gewesen. Ich habe das Programm »Fördern und Fordern« erwähnt. Das ist zum Otto Benecke-Prinzip geworden. Für sozialdemokratische Sozialpolitiker war es in den 1990er Jahren absolut ungewohnt, im Zusammenhang mit Zuwanderern das Wort »fordern« in den Mund zu nehmen. Fördern, das ja, fit machen, aber Forderungen erheben? Die OBS hat in meiner Heimatstadt Recklinghausen von 2001-2004 im Rahmen eines Projektes ein Bonussytem für die Integration von Zuwanderern im kommunalen Netzwerk erprobt. Belohnt wurde, wer sich aktiv um seine Integration bemühte. Wenn sich jemand z. B. in einem Sportverein engagierte und so ja auch seine Sprachkompetenz verbesserte, sammelte er Bonuspunkte, die er dann z. B. in verbilligte Vereinsbeiträge eintauschen konnte.

 

Wie verträgt es sich denn mit der Idee des Fördern und Fordern, dass Asylbewerber gezwungen werden, für lange Zeit gar nichts zu tun?

Koschyk: Nach geltender Rechtslage gilt der seit 2005 auch im Aufenthaltsrecht verankerte Grundsatz des Förderns und Forderns für Ausländer, die rechtmäßig und auf Dauer im Bundesgebiet leben. Sie haben Zugang zu den Integrationsmaßnahmen des Aufenthaltsgesetzes, insbesondere zum Integrationskurs, die eine umfassende Teilhabe in allen Lebensbereichen in unserer Gesellschaft ermöglichen sollen. Für Asylbewerber besteht dem entsprechend kein Anspruch auf Teilnahme an diesem kostenintensiven Integrationsangebot; denn es ist nicht absehbar, ob er sich dauerhaft in Deutschland aufhalten wird. Einzeln Bundesländer wie Bayern, Brandenburg und Hamburg bieten allerdings für Asylbewerber und Geduldete spezielle Sprachlernangebote an. Der Bundesrat hat jedoch einen Gesetzentwurf zur Öffnung der Integrationskurse für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, Ausländerinnen und Ausländer mit humanitären, völkerrechtlichen oder politischen Aufenthaltserlaubnissen sowie Flüchtlinge im laufenden Asylverfahren und Geduldete beschlossen. Vor diesem Hintergrund prüft die Bundesregierung derzeit, welche Maßnahmen für den vorgenannten Personenkreis sinnvoll und auch finanzierbar sind.

 

Welt: Es war für mich nicht verständlich, dass Leute, die mit Qualifikationen zu uns kommen, nichts tun dürfen, sondern abwarten müssen und dann zu hören bekommen: Guck mal, diese faulen Asylanten, die tun nix, die liegen uns nur auf die Tasche! Aber da war in den Kompromissverhandlungen mit den anderen Parteien damals nicht anders zu regeln. Dass es jetzt möglich wird, Flüchtlinge früh in Ausbildung und Arbeit zu bringen, das ist ja Gottes Segen.

 

Wem – außer Gott – ist diese Wende in der Flüchtlingspolitik zu verdanken?

Koschyk: Ich kann eine grundsätzliche Wende in der Flüchtlings- und Asylpolitik nicht erkennen. Die aktuelle Zuwanderungssituation ähnelt zwar in einem Punkt sehr stark der von Beginn der 1990er Jahre: Wir beobachten einen starken Zuzug in die europäischen Asylsysteme aus den Westbalkanstaaten, dazu kommt eine wirtschaftlich motivierte Migration aus Osteuropa, konkret aus Bulgarien und Rumänien. Andererseits kommen schutzbedürftige Menschen von anderen Kontinenten in hoher Zahl nach Europa, vor allem nach Deutschland. Auf dieses globale Migrationsgeschehen müssen wir die richtigen Antworten finden, und zwar – anders als 1992 – nicht nur auf nationaler, sondern vor allem auch auf europäischer Ebene. Hier stehen wir durchaus noch am Anfang der Debatte.

 

Welt: Parteien, die in den 90er Jahren darauf bestanden, wir seien kein Einwanderungsland, haben ihre Positionen geändert. Da spielen die Medien eine Rolle, auch das lautstarke Engagement gesellschaftlicher Gruppen. Platz gegriffen hat sicher auch die Erkenntnis, dass diese Menschen unsere Wohlfahrt nicht mindern, sondern mehren. 60 % der Syrer, die jetzt zu uns kommen, sind hoch gebildet und ausgebildet. E wäre doch dumm, ihre Fähigkeiten hier nicht zu nutzen. Deshalb hilft die OBS ihnen, sich so zu qualifizieren, dass sie ihre Kompetenzen anwenden können. Auch wenn sie irgendwann in ihre Heimat zurückgehen und mithelfen, ihr Land wieder aufzubauen, ist das ein wichtiger Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit.

 

Die erwähnten 4,5 J Million- und Spätaussiedler fallen in der Öffentlichkeit als solche nicht mehr auf Sie sind hier angekommen. Wie ist das gelungen?

 

Koschyk: Die Aussiedler und Spätaussiedler kamen mit dem Wunsch nach Deutschland, hier als Deutsche unter Deutschen zu leben und zu bleiben. Dank ihrer Vorkenntnisse der deutschen Sprache und der von ihnen gepflegten deutschen Kultur fiel es ihnen relativ leicht, sich in das hiesige Leben vor Ort zu integrieren. Ausschlaggebend hierfür waren nicht allein die staatlichen Integrationsangebote, sondern das aktive eigene Bemühen um ihre Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt. Beim Zurechtfinden auf dem Arbeitsmarkt halfen bereit vorhandene relativ hohe Bildungsabschlüsse und der feste Wille, durch eigene Kraft den Lebensunterhalt zu bestreiten. Zum Gelingen der Integration hat auch die ehr ausgeprägte Selbsthilfe unter den Aussiedlern beigetragen, wie etwa die Unterstützung neu zugewanderter »Landsleute« durch ehrenamtliche Lotsen, Paten und Mentoren.

 

Welt: Das ist in der Tat eine Erfolgsgeschichte. Dabei haben viele mitgewirkt. Ich wundere mich immer noch, mit welchem Engagement stramme CDU-Leute aus dem Bundesinnenministerium, das zuvor von Kanther geführt worden war und dann von Otto Schily, ab 1998 dabei mitgeholfen haben, unser neues Integrati­onskonzept zu entwickeln. Das hat meinen Glauben an den gesellschaftlichen Konsens erneuert.

Damals haben wir übrigens auch die Netzwerke für Integration entwickelt. Netzwerke vor Ort, in Gemeinden, von den Kirchen über die Schulen, die Sozialverbände bi hin zu Schützen- und Kleingartenvereinen, immer mit den Betroffenen selbst. Erst waren das nur die Aussiedler, später auch andere Zuwanderer. Wir haben den Gemeinden geholfen, auch finanziell, solche Netzwerke für Integration aufzubauen. Da wurde seinerzeit gute Arbeit geleistet. In den Netzwerken wurden Konflikte bereinigt, Krisenfälle aufgegriffen, Probleme in Stadtteilen bearbeitet. Etwa, wenn Kinder aus Glaubensgründen nicht in den Sportunterricht geschickt wurden: hier kam das auf den Tisch, es blieb nicht unter dem Tisch, es wurde öffentlich diskutiert.

 

Seinerzeit? Diese Förderung gibt es heute nicht mehr?

Welt: Nein. Das wäre ja dann eine konsequente Bundesförderung. Die ist nach dem Grundgesetz nicht möglich. Wir konnten nur Modelle entwickeln. Da haben wir getan. Auch dabei hat die Otto Benecke Stiftung sehr innovativ mitgeholfen. Aber man muss auch sagen: die Motivation der Aussiedler hat geholfen. So komisch das klingt, aber die kommen eben mit dem Anspruch hier hin, Deutsche zu sein, und dann wollen sie sich eben auch »deutsch« verhalten; leistungsorientiert sein, fleißig.

 

 

Heißt das, sie sind deutscher als die »Biodeutschen«, auf die sie hier treffen?

 

Koschyk: Ich kann und möchte das nicht beurteilen. Ich bin sehr vorsichtig damit, bestimmte Eigenschaften und Verhalten weisen als typisch deutsch zu bezeichnen. Gemeinhin wird den Deutschen ja ein Hang zu Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß nachgesagt. Ich finde, das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was uns Deutsche ausmacht; ich erlebe Deutschland zudem zunehmend als ein sehr freundliches, weltoffenes und gastfreundliche Land. Das ist eine gute Entwicklung.

 

Welt: Das man Abstammung so hoch gehängt hat – die Volkszugehörigkeit -, im Bundesvertriebenengesetz, das hat mit den Kriegsfolgen zu tun.

 

Nun liegt der Zweite Weltkrieg lange zurück. Wäre es nicht an der Zeit, neue Definition des Deutschen zu suchen?

 

Welt: Das weiß ich nicht. Die Zahlen der vom Bundesvertriebenengesetz Betroffenen, der § 4er, werden ja immer kleiner. Es ist immer mal wieder diskutiert worden, das Gesetz abzuschaffen. Aber es hilft eben doch immer noch, einige Probleme zu lösen, zum Beispiel der Familienzusammenführung. So habe ich noch initiiert, dass auch die erwähnten 8er, also die Ehepartner, in den Herkunftsländern an Sprachkursen teilnehmen müssen. Fördern, fordern …

 

Koschyk: In den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gibt es bereits vielfältige Ansätze, die sich um eine Begriffsbestimmung »des Deutschen« bemühen. Denken Sie dabei nur an die verschiedenen soziologischen oder politikwissenschaftlichen Deutungsversuche. Ich denke jedoch, dass die rechtliche Begriffsbestimmung und die differenzierte Definition des Grundgesetzes auch heute noch notwendig und sinnvoll sind.

 

Deutscher im Sinne des Grundgesetzes; das hält noch immer die Erinnerung wach an Deutschland in den Grenzen von 1937.

 

Koschyk: Ich halte den Sprachgebrauch des Grundgesetzes im Hinblick auf den Begriff des Deutschen nicht für anachronistisch. Es handelt sich dabei vielmehr um eine höchst differenzierte Formulierung, die hervorhebt, dass nicht nur die deutschen Staatsangehörigen »Deutsche« sind, sondern auch die Gruppe der sogenannten Statusdeutschen, zu denen insbesondere die Spätaussiedler zählen. Menschen, die sich kriegsfolgenbedingt aufgrund ihrer Abstammung, Sprache, Erziehung oder Kultur als deutsch bekennen, gehören auch heute noch zur Le­benswirklichkeit. Diesen wird durch die bestehende grundgesetzliche Regelung rechtlich angemessen begegnet.

 

Welt: Man darf das nicht ausblenden: es hat im und nach dem Krieg Massendeportationen gegeben. Ganze Dörfer, wie Engels an der Wolga, wurden aufgelöst, Menschen in Kasachstan verstreut. Sie wurden verfolgt, nur weil sie Deutsch gesprochen haben. Auch nach Stalin gab es noch strukturelle Benachteiligungen, verschlossene Berufswege, bis in die 1970er, 80er Jahre hinein. Unter Deutschstämmigen in der Sowjetunion gab es relativ wenige Akademiker, aber viele Melker und Traktoristen.

 

 

 

 

 

Inzwischen wurde in Rumänien ein Deutschstämmiger zum Präsidenten gewählt. 1st das auch ein Erfolg von Integrationspolitik?

 

Welt: Klaus Johannis, den ich gut kenne, hat in Hermannstadt und Umgebung für eine ungcheure Prosperität gesorgt, als Bürgermeister. Die Anerkennung als Kulturhauptstadt Europas: Da hat er alles hingekriegt. Natürlich auch mit Unterstützung aus Deutschland; das sollte man nicht wegdiskutieren. Aber das nutzt eben allen Rumänen, nicht nur den deutschstämmigen, und das wird von der Bevölkerung dort anerkannt. Ja, auch da ist, wenn man so will, ein Integrationserfolg.

 

Koschyk: Als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten freue ich mich sehr, dass Klaus Johannis in das höchste rumänische Amt gewählt worden ist. Auch ich kenne ihn seit Jahren und schätze ihn sehr. Seine Wahl zeigt auf der einen Seite, dass die Mehrheitsnation, die Rumänen, den Angehörigen der deutschen Minderheit vertraut und bietet diesen auf der anderen Seite die Chance, das in sie investierte Vertrauen zu nutzen, die Verantwortung wahrzunehmen und die gemeinsame Zukunft erfolgreich zu gestalten.

Klaus Johannis hat bereits als Mitglied des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und als langjähriger Oberbürgermeister Hermannstadt großartige Arbeit geleistet. Von seinem großen Engagement und Einsatz, welchen er sowohl für die rumänische Bevölkerung als auch die deutsche Minderheit in Rumänien und die grenzüberschreitende Deutsch-Rumänische Zusammenarbeit leistet, konnte ich mich zuletzt bei meinem Besuch in Siebenbürgen im September dieses Jahres überzeugen.

Mein großes Anliegen als Bundesbeauftragter ist es, den gegenseitigen Mehrwert und das Zusammenleben von Bevölkerungsmehrheit und nationalen Minderheit grenzüberschreitend und herkunftsunabhängig zu stärken. Ich bin mir sicher das Klaus Johannis dies als Präsident fördern und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Rumänien stärken wird.

 

Russland hat 2007 versucht, Aussiedler zurückzulocken, mit einem »Programm Landsleute«. War das ein Propagandacoup oder mehr?

 

Koschyk: Es gibt meines Wissens kein russisches Regierungsprogramm, das gezielt die Rückholung der heute hier lebenden und als Aussiedler anerkann­ten   Russlanddeutschen zum Gegenstand hat. Sie sprechen hier sicher auf das »Staatliche Programm zur Förderung der freiwilligen Umsiedlung der im Ausland lebenden Landsleute in die Russische Föderation« an, das seit 2007 umgesetzt wird. Es wendet ich an alle ehemaligen russischen Staatsbürger im Ausland, die ich eine dauerhafte Rückkehr in das russische Staatsgebiet vorstellen können. Dazu dürfen sich – neben vielen anderen -natürlich auch die heute in Deutschland lebenden Russlanddeutschen zählen. Die Hauptzielgruppe die es Programm bilden allerdings die »russischen Landsleute«, die zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion in den unmittelbar an die Russische Föderation angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken geblieben oder dorthin abgewandert sind, und deren Nachkommen. Sie stellen auch über 99 Prozent der rund 220.000 Personen, die nach Internet-Informationen bi Oktober 2014 im Rahmen dieses Programms in die Russische Föderation zurückgekehrt sein sollen. Danach soll es auch einzelne Rückkehrer aus Deutschland geben. Deren Anzahl kann sich allerdings nur im Promille-Bereich bewegen, und mir ist auch nicht bekannt, ob sich darunter wiederum russlanddeutsche Aussiedler befinden.

 

Welt: Meines Erachtens ist da nur Propaganda. Es hat immer Menschen gegeben, die sich hier nicht zurechtgefunden haben und wieder zurück gegangen sind. Das waren, jedenfalls zu meiner Zeit, sehr wenige. Aber was es inzwischen sehr häufig gibt, das sind wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtungen zwischen Menschen, die in Deutschland Fuß gefasst haben, und Partnern in ihrer vorherigen Heimat. Insofern spielen diese Menschen noch eine ganz andere Rolle. Sie kennen die dortigen Kulturen und die Sprache, und sie wissen auch, etwa in Verhandlungen, mit dem Nonverbalen umzugehen. Sie bilden eine Brücke zwischen Deutschland und Russland oder Kasachstan und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion oder ostmitteleuropäischen Ländern. Da ist doch eine Brücke, die wir dringend brauchen. Gerade jetzt.

 

Der Sozialdemokrat Jochen Welt war von 1998 bis 2004 Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, ab 2002 auch zuständig für nationale Minderheiten. Hartmut Koschyk (CSU) hat diese Funktion seit Anfang 2014 inne.