Jochen Welt hat’s schon wieder getan
Interview von Ralph Wiethaup, RZ vom 18.10.21
Der Mann kann’s nicht lassen: Jochen Welt hat einmal mehr ein Buch veröffentlicht, diesmal wieder mit wissenschaftlichem Ansatz: In „Opferzeiten“ geht es um ein Phänomen, das wir alle kennen.Jochen Welt greift in seinem Buch die Geschichte von Kain und Abel auf, schreibt aber auch über Papst Benedikt, Mesut Özil und Lothar Matthäus. Der Mann war zwölf Jahre Bürgermeister in Recklinghausen, er fungierte weitere fünf Jahre als Landrat, und er saß zudem noch vierzehn Jahre im Bundestag. Eigentlich könnte sich der 74-Jährige mit entschleunigten Spaziergängen rund um seinen Wohnsitz in Essel und leichten Tätigkeiten im Garten begnügen, aber offenbar reicht Jochen Welt das nicht: Er hat (mal wieder) ein Buch veröffentlicht, das durch den Tankstellen-Mord in Idar-Oberstein einen fast schon beängstigenden Realitätsbezug erhalten hat. „Opferzeiten“ heißt das Werk, in dem der Diplomsozialwissenschaftler den Begriff des Opfers von der Historie bis in die gesellschaftspolitische Gegenwart seziert.
Die Einstiegsfrage liegt auf der Hand, Herr Welt: Warum haben Sie es schon wieder getan?
Jochen Welt: Weil ich einfach gerne schreibe, es ist ja auch nicht mein Erstling. 1994 habe ich „Jeder gegen Jeden“ veröffentlicht, das man gewissermaßen als Vorläufer des aktuellen Buches betrachten kann, weil es da um die entsolidarisierte Gesellschaft geht. Dann kam 1997 mit „Liebe und Politik“ ein Roman mit Migration und Rechtsextremismus als Hintergrund. Und dann waren da später mit „Einwanderungsland Deutschland“ und „Integration stiften!“ zwei Bücher, an denen ich ganz wesentlich mitgewirkt habe.
Das erklärt aber nicht alles
Welt: Ich habe jetzt einfach mehr Zeit als früher. Mehr Zeit für die Familie und mehr Zeit für Sachen, die mir im gesellschaftlichen Umfeld auffallen. Und dazu gehört auch das Opferthema, und da habe ich jetzt die Zeit, das wissenschaftlich aufzuarbeiten – historisch, philosophisch und sogar neurologisch.
Dann steigen wir mal ein ins Buch. Was meinen Sie denn mit dem Opferthema?
Welt: Opfer begegnen uns aktuell überall. Das sind all diejenigen, die sich durch alles benachteiligt fühlen – durch Corona, durch die Umwelt, durch die Regierung, durch alles Mögliche. Diese Leute klagen auf einem irre hohen Niveau. Und das führt dazu, dass die wirklichen Opfer nicht mehr zu erkennen sind.
Und die wirklichen Opfer sind?
Welt: Das sind die Menschen, die beeinträchtigt sind durch Unfall, Krankheit oder andere Schickssalsschläge. Diese Leute brauchen unsere Solidarität wirklich. Der Opferbegriff, den ich aufgreife, hat ja archaische und religiöse Wurzeln. Da müssen wir nur an Kain und Abel in der Bibel denken: Kain denkt, dass Abel von Gott bevorzugt wird, er wähnt sich als Opfer und erschlägt letztlich seinen Bruder. Und das ist ja ein üblicher Mechanismus, der sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht: So hat Adolf Hitler die Versailler Verträge benutzt, um Deutschland als benachteiligt darzustellen. Von der Frage, wer die Schuld am Ersten Weltkrieg trägt, war überhaupt nicht mehr die Rede.
Und diese Reihe kann man vermutlich beliebig weiterführen?
Welt: Genau. Dabei muss man sich aber immer in Erinnerung rufen, dass es zwei Typen von Opfern gibt. Da sind zum einen die virtuellen Opfer, die den Eindruck erwecken, Opfer zu sein. Aber dahinter steckt in der Regel nur eine gewisse Anspruchsmentalität. Und dann sind da die realen Opfer, wie die Juden im Dritten Reich. Das war eine Katastrophe und für die ganze Menschheitsgeschichte prägend. Und trotzdem findet man heute immer mal wieder Vergleiche, in denen es dann heißt, dass irgendwas „so schlimm wie der Holocaust“ war. Wenn man sich mit diesem Thema intensiv beschäftigt, dann entwickelt man eine ausgeprägte Sensibilität: Ich führe mittlerweile ein von mir so genanntes „Opfer-Tagebuch“, in dem ich aktuelle Ereignisse notiere, die genau in das Schema passen. Ein dramatischer Höhepunkt war da zuletzt der Tankstellen-Mord von Idar-Oberstein, bei dem sich der Täter als Opfer fühlte, weil er eine Maske aufsetzen sollte.
„Die Komfortzone wird gefährdet“
Warum passiert so etwas?
Welt: Jeder baut sich seine Komfortzone, die durch das Elternhaus, das soziale Umfeld und andere Dinge geprägt ist. Dann wird die Umwelt gescannt, und wenn da etwas differiert, dann fühlt man sich schnell als Opfer. Und dann braucht es auch schnell einen Täter oder einen Sündenbock. Und für dieses Schema gibt es eine Vielzahl an Beispielen. Die Migration 2015 war ein solches: Wirkliche Opfer waren die, die durch Krieg und Giftgasangriffe bedrängt waren, aber hier sahen das viele anders, weil sie ihre Komfortzone gefährdet sahen – was eben den Arbeits- oder den Wohnungsmarkt anging. Die Regierung, die die Flüchtlinge hineinließ, war der Täter, die Flüchtlinge selbst die Sündenböcke. Und das reißt eine Gesellschaft auseinander.
Und dann gibt es vermutlich immer welche, die das für sich zu nutzen wissen?
Welt: Es gibt vor allem auch jemanden wie Donald Trump, der das für seine Zwecke intuitiv richtig ausgenutzt hat. Er hat vielen abgehängten US-Bürgern erklärt, dass sie Opfer der Eliten sind und dass er der Einzige ist, der sie da herausholen kann. Es hat sich als Heiler inszeniert, und damit ist das Drama-Dreieck, das aus Opfer, Täter und Heiler besteht, perfekt. Und Boris Johnson hat genau auf diese Weise den Brexit vorbereitet.
Sie veranschaulichen diese Mechanismen in Ihrem Buch aber auch mit populären Figuren wie Mesut Özil oder Lothar Matthäus.
Welt: Ich erhoffe mir natürlich einen Aha-Effekt durch praxisnahe Beispiele. In diese Reihe fällt auch der Papst, also „unser“ Papst Benedikt XVI. Der es doch tatsächlich geschafft hat, in der Diskussion um Kindesmissbrauch der 68er-Bewegung den Schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben. Die neue liberale Haltung hätte sich bei den Klerikern festgesetzt, und damit hätte man dann einen echten Täter: den Zeitgeist.
„Der Ausweg ist ein Marathonlauf“ Gibt es denn Lösungen? Zeigen Sie einen Weg auf, der das Drama-Dreieck durchbricht?
Welt: Das letzte Kapitel des Buches lautet: Heraus aus der Opferfalle. Aber direkt dahinter habe ich geschrieben: ein Marathonlauf. Die eigentliche Frage lautet doch: Wie können wir die Menschen so stärken, dass sie verantwortlich und ehrlich handeln? Ganz klar: Wir müssen das belohnen. Selbstkritik ist etwas, was in dieser Gesellschaft nicht immer wertgeschätzt wird, aber ohne diese geht es nicht. Wir brauchen eine Wertediskussion, und das führt nur über Bildung.
Wie verlief die Zusammenarbeit mit dem Verlag?
Welt: Sehr gut. Am Ende gingen die Druckfahnen noch fünfmal hin und her, weil ich auch pingelig bin und Frau, Tochter und Freunde noch mal habe drüberlesen lassen. Im September war dann alles druckfähig.
Reich werden Sie mit dieser Veröffentlichung aber wohl kaum.
Welt: (lacht) Vermutlich nicht, deswegen sind auch erst einmal nur 500 Exemplare gedruckt worden. Aber auf Facebook war eine der ersten Reaktionen nach der Ankündigung des Buches: „Diese Politiker kriegen den Hals nicht voll und verdienen jetzt auch noch mit Büchern“. Aber wegen des Geldes habe ich das wirklich nicht gemacht, doch natürlich hofft man darauf, dass es jemand liest. Genau wie das nächste Buch.
Es wird noch eins geben?
Welt: Das ist schon in Arbeit.
INFO: Jochen Welt: Opferzeiten – Vom archaischen zum virtuellen Opfer, LIT- Verlag, ISBN: 978-3-643-14994-7, 24,90 €