Zuwanderung – Die Achillesferse unserer Demokratie
Wenn ein Neuer oder eine Neue in eine vorhandene Gruppe kommt, dann treffen sie zunächst auf Skepsis, Vorbehalte, manchmal sogar Aggression. Diese Erkenntnis der Sozialpsychologie ist spätestens seit Kurt Lewin (1890-1947) bekannt und für jeden aufmerksamen Mitbürger auch erlebbar. Was soll also bei der Zuwanderung einer großen Zahl von neuen Mitgliedern in die deutsche Gesellschaft anders sein? Offensichtlich wird dieses Phänomen bei allen Verfechtern einer liberalen Migrationspolitik und Protagonisten der offenen Zuwanderungsgrenzen schon seit Jahren unterschätzt.
Dabei kann eine Gruppe von neuen Mitgliedern enorm profitieren, wenn man ihr für den dazugehörigen Prozess Zeit lässt und sie dabei noch mit Mitteln einer hilfreichen Pädagogik unterstützt. Eine Überforderung der Gruppe ohne nachhaltige, ausreichende Unterstützung kann allerdings zu erheblichen Gruppenkonflikten, zur Zerstörung der Gruppe und zur Beschädigung ihrer Gruppenmitglieder führen. Nicht anders verhält es sich in der Migrationspolitik. Das Maß an Zuwanderung muss für die Mitglieder einer Gesellschaft verarbeitbar sein. Ist das nicht der Fall, dann kann ein unter normalen Umständen möglicher Nutzen sich ins Gegenteil verkehren und zur Gefährdung der Gesellschaft führen.
Anders ausgedrückt: Wenn unsere Gesellschaft, aufgrund ihrer demografischen Entwicklung und wegen des Bedarfs an Arbeitskräften, die sowohl den ökonomischen als auch den sozialen Standard sichern, eigentlich auf Zuwanderung angewiesen ist, dann sollten die politisch Verantwortlichen darauf achten, dass sie die einheimischen Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern und, dass genügend Hilfen für die Integration in die Gesellschaft bereitstehen. Beide Dinge stimmen in dieser Bundesrepublik schon seit Jahren nicht mehr. Die Zuwanderungszahlen steigen. Dabei können die Integrationsleistungen, nicht die Transferleistungen, für die steigende Zahl der Zuwanderer in keiner Weise mithalten. Im Gegenteil, bei steigenden Zahlen kommt es zu Haushaltskürzungen. Von Integration oder gar Inklusion kann schon lange keine Rede mehr sein.
Neue Akzente der Migrationspolitik werden lediglich als semantische Bemühungen wahrgenommen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat zweifelsohne Möglichkeiten und Chancen zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Es wird allerdings mental in der Gesamtzuwanderungsdebatte untergehen und im Gefühl der betroffenen Bevölkerung als Belastung, gar als Gefahr wahrgenommen werden. Die zunehmenden Ängste vor Zuwanderung und Überfremdung werden die vorhandenen guten Absichten des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes überlagern. Dabei muss man wissen, dass die bisher regionale und soziologische Zuordnung von migrationsverursachten Ängsten sich inzwischen auch in weiten Teile einer bislang demokratie-loyalen Mittelschichtbürgerschaft breitmacht. Das angstbesetzte Geschwurbel über Flüchtlinge, an Stammtischen, der Öffentlichkeit und in Teilen der Medien, entwickelt sich immer mehr zur Achillesferse unserer Demokratie.
Was also tun? Zweifelsohne muss die illegale Zuwanderung begrenzt werden. Der Einstieg der anerkannten Zuwanderer in unsere Gesellschaft muss durch Förderung und Hilfe, aber auch durch Anforderungen zur Mitwirkung ermöglicht werden. Der Nutzen für unsere Gesellschaft muss transparenter und die Notwendigkeit zur solidarischen Hilfe bei Krieg, Verfolgung und Katastrophen muss fühlbarer werden. Dafür ist die Abschaffung des individuellen Rechtes auf Asyl, wie populistisch durch die Teile der CDU und dem Tübinger OB Boris Palmer gefordert, weder notwendig noch hilfreich. Eine derartige Diskussion befeuert nur die menschenfeindliche Flüchtlingspolitik von Rechtspopulisten. Eine Relativierung des Artikels 16a des Grundgesetzes (GG) ist allein vor dem Hintergrund der Genfer Flüchtlings- und Europäischen Menschenrechtskonvention gar nicht möglich.
Die Begrenzung von illegaler Zuwanderung und die Entwicklung eines effektiven Anerkennungsmanagements mit wirksamen Verfahren an den Außengrenzen sind eine Grundvoraussetzung für eine Beruhigung der Lage. Das heißt, bei aller Empathie für die persönlichen Nöte und Hoffnungen von Flüchtlingen ohne Anerkennungschancen, dass alle Wege für eine Rückführung gefunden und genutzt werden müssen. Das gegenwärtige System ist ein soziales Perpetuum mobile. Jeder hier mit staatlicher Hilfe geduldete Flüchtling multipliziert positive Narrative über die Chancen in seinem gegenwärtigen Aufenthaltsland. Was früher die Briefe der Spätaussiedler an ihre Verwandten in Sibirien, an der Wolga oder in Kasachstan mit dem Verweis auf die bisher schon erstandenen „Wohlstandsymbole“ waren, das leisten bei der Vielzahl der Flüchtling aus Afrika, Asien und anderen Teilen der Welt die sozialen Medien und das Mobiltelefon. Nur wesentlich schneller und effektiver. Dabei stellt die für die Herkunftsländer der Migranten exorbitant hohe finanzielle Unterstützung gleichsam ein doppeltes Problem dar. Sie ist ein Beleg für das zurück in die Herkunftsländer vermittelte Narrativ eines quasi „Gelobten Landes“ und schafft in der Gefühlslage eines immer größer werdenden Teils der einheimischen Bevölkerung ein Gerechtigkeitsproblem. In ökonomisch und sozial schwierigen Zeiten erhalten Flüchtlinge gefühlt den gleichen oder gar höheren Sozialleistungsstandard wie Einheimische. Jenseits dieser Gerechtigkeitsdebatte wird es notwendig, die Sozial- und Transferstandards in Europa zu harmonisieren. Dabei darf auch ein Primat von Sachleistungen vor Geldleistungen kein Tabu sein. Es gilt, die werbende Informationskette quantitativ wie qualitativ auf ein erträgliches und realistisches Maß zu rückzuführen und den Gerechtigkeitsblick zu entspannen.
Zu einem effektiven Anerkennungsmanagement gehört auch die notwendige Mitwirkung im Anerkennungsverfahren. Wer diese verweigert, Angaben fälscht oder im Verfahren täuscht, der hält sich widerrechtlich in Europa auf. Sein Handeln ist dabei vielfach strafbar. Wer als Schöffe oder interessierter Laie an Strafgerichtsverfahren gegen Migranten teilnimmt, der erlebt nicht selten, dass hier zu verurteilende Straftäter mit mehreren Identitäten und Ausweispapieren auftauchen. In solchen und ähnlich gelagerten Fällen kann es auch keine Freizügigkeit geben. Vielmehr ist im Gegenteil Abschiebehaft unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze notwendig. Dass eine Rückführung bei illegalem Aufenthalt nicht einfach ist, haben wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Deshalb müssen hier die bilateralen Bemühungen mit den Herkunftsstaaten verstärkt und Abkommen mit Drittstaaten ausgeweitet werden. Allerdings werden wir dabei nicht unsere Ansprüche an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können.
Bei Flüchtlingen mit Anerkennungschancen ist es wichtig, dass sie schnellstmöglich über den Weg der sozialen und beruflichen Integration anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Das Fachkräftezuwanderungsgesetz zeigt den Weg des Quereinstiegs. Hier muss man den Pfad der Zufälligkeit verlassen und gleich im Zusammenhang mit dem Anerkennungsverfahren einen Talentcheck durchführen, der in zugewiesenen Wohnorten direkt zu angepassten Qualifizierungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten führen kann. Dass Flüchtlinge ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein können, kann man bei vielfältigen Qualifizierungsprojekten feststellen. In den durch Bildungseinrichtungen des Handwerks und der Otto Benecke Stiftung e.V. (OBS) durchgeführten Maßnahmen (GidA – Gemeinsam in die Ausbildung) haben es fast 90 % der teilnehmen Flüchtlinge aus den Jahren 2015-2019 zu einer anerkannten Berufsausbildung und anschließender Beschäftigung gebracht. Warum nicht derartiges durch gemeinsame Kraftanstrengungen mit Handwerks- und Handelskammern u.a. gleich zur Regel machen?
Qualifizierung- und Berufstätigkeit sind maßgebliche Integrationsförderer. Sie ersetzen allerdings nicht die Beispiel- und Bildungsfunktion der Gesellschaft bei der Vermittlung vorhandener Werte und Normen. Dabei waren wir in Deutschland in Sachen Verbindlichkeit von Integrationsbemühungen schon mal weiter. So ist z.B. der, in der Zeit des ersten Zuwanderungsgesetzes gestartete Versuch, mithilfe von Integrationsverträgen eine Leitschnur und mehr Verbindlichkeit im Integrationsprozess zu erreichen, wohl im Sande verlaufen. Auch ist der öffentliche Auftritt unseres Staates als wehrhafter Schützer unserer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den letzten Jahren eher durch eine falsch verstandene Liberalität geprägt. Das gilt sowohl für die Durchsetzung von Kinder- und Frauenrechten, die Verhinderungen von rechtsfreien Räumen, die Bekämpfung Gewaltkriminalität als auch für die offensichtliche Duldung nachweisbar importierter Teile eines zunehmenden Antisemitismus. In diesen und ähnlichen Feldern keine Grenzen aufzuzeigen und sie nicht durchzusetzen, macht nicht nur das demokratische System beliebig. Derartige staatlichen Versäumnisse auf allen Ebenen sind ebenfalls keine beispielgebenden Hilfen für die Integration von Migranten.
Es bleibt zu hoffen, dass die politischen Akteure des demokratischen Lagers unseres Landes, aber auch Europas, die Kraft aufbringen, einen gesellschaftlich anzustrebenden qualitativen wie quantitativen Gleichklang von Zuwanderungssteuerung und Integrationsbemühungen zu erreichen. Gelingt das nicht, dann werden Rechtspopulisten in Deutschland und Europa die migrationspolitische Marschrichtung stärker bestimmen. Das wäre weder ein Gewinn für Europa und die Demokratie noch für Flüchtlinge dieser Erde, die unsere Hilfe dringend benötigen.